Lektion 1: Der Tod Jesu in den Evangelien

Weil der Tod Jesu ein Ereignis ist, muss von ihm erzählt werden, damit er in Erinnerung bleibt. Die erzählerische Weise, den Tod Jesu ins Gedächtnis zu rufen, findet sich in den Passionsgeschichten der Evangelien. 

Die Passionsgeschichten der Evangelien sind in ihrer kanonischen Gestalt durch Markus, Matthäus, Lukas und Johannes im Zeitraum von ca. 70-100 publiziert worden (zu den Einleitungsfragen vgl. hier), gehen aber auf ältere mündliche und schriftliche Quellen zurück, deren Alter und Umfang nur auf dem Weg literarkritischer und traditionsgeschichtlicher Hypothesenbildung, nicht ohne eine erhebliche Unschärferelation, zu bestimmen ist, deren Existenz aber aufgrund einer exakten philologischen Analyse postuliert werden muss. 

  • Markus greift auf eine vormarkinische Überlieferung zurück, die sehr alt gewesen ist und wenigstens vom Letzten Abendmahl bis zur Grablegung, wahrscheinlich aber auch der Auffindung des leeren Grabes erzählt. 
  • Matthäus ist im wesentlichen Markus gefolgt. 
  • Lukas hat gleichfalls auf Markus zurückgreifen können, aber eine so eigenständige Variante in vielen Details und  ganzen Episoden, dass der Rückschluss auf eine eigene, weitere vorlukanische Passionstradition naheliegt. 
  • Johannes wird zwar synoptische Überlieferungen gekannt haben, folgt in der Passionsgeschichte aber nicht ihnen, sondern einer eigenen Tradition, die auf den Lieblingsjünger zurückgeführt wird.

Der neutestamentliche Befund der Evangelien erlaubt ein differenziertes historisches Urteil, aber auch einen Zugang zu wesentlichen Deutungen des Todes Jesu, weil die Sprache nicht neutral, sondern bedeutungsgeladen ist. 

Zur Evangelientradition gehört nicht nur, dass Jesus die Passion erlitten, sondern auch, dass er sich mit ihr auseinandergesetzt hat. In den Evangelien wird der Tod Jesu nicht nur als Geschehen erzählt, sondern auch – als Teil der Erzählung vom öffentlichen Wirken Jesu – besprochen. Auf der Ebene der Evangelien lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden:

  • Jesus hat seinen Tod – zusammen mit seiner Auferstehung – vorhergesehen und mehrfach angekündigt (Mk 8,31 parr.; 9,31 parr.; 10,32ff. parr. u.ö.). 
  • Jesus hat seine Misserfolge (Mk 4,3-9 parr.), seine Ablehnung (Mt 22,1-14 par. Lk 14,15-24), sein Leiden (Mk 12,1-12 parr.) ins Bild gesetzt, indem er Gleichnisse erzählt hat, die das Drama eines prophetischen Verkünders veranschaulichen, der kein Gehör findet, aber dennoch Gottes Herrschaft verwirklicht. 
  • Jesus hat seinem Tod – nicht oft, aber nachdrücklich – explizit Heilsbedeutung verliehen, und zwar vor seinen Jüngern (Mk 10,45 par.), definitiv beim Letzen Abendmahl (Mk 14,22-25 parr.). 
  • Jesus hat seine Jünger nicht nur mit der Notwendigkeit seines Todes konfrontiert, sondern sie auch auf seinen Tod vorbereitet und sich mit ihren Schwierigkeiten auseinandergesetzt, ihn zu akzeptieren (Mk 8,27-38 parr.).

Bei den expliziten Referenzen Jesu auf seinen kommenden Tod bricht der Verdacht der historisch-kritischen Exegese auf, es handle sich um Rückprojektionen aus der nachösterlichen Zeit, um das Scheitern Jesu zu vertuschen und nachträglich dasjenige, was unfassbar ist, als notwendig hinzustellen resp. den nachösterlichen Glauben in der vorösterlichen Verkündigung zu verankern. 

Dieser Verdacht ist insofern erhellend, als er den nachösterlichen Standpunkt der Evangelien markiert und in Erinnerung ruft, dass es von der vorösterlichen Verkündigung Jesu nichts gibt, was nicht durch den Filter und Verstärker der nachösterlichen Glaubenstheologie gegangen wäre. Allerdings ist der Verdacht deshalb nicht auch schon begründet. Die Überlieferung ist sehr breit und vielfältig. Wenn Jesus sich nicht mit der Möglichkeit seines Todes auseinandergesetzt hätte, wäre er blind gewesen.

Methodisch ist die Konsequenz zu ziehen, keine einzige Überlieferung dessen, wie Jesus seinen Tod in den Evangelien bespricht, von vornherein auszusortieren oder historisch zu fixieren, sondern jede in eine differenzierte Betrachtung einzubeziehen, die zuerst ihre theologische Deutungskraft im Kontext der urchristlichen Glaubensgeschichte beschreibt, bevor sie reflektiert, welchen Aspekt der Geschichte sie sichtbar macht. 

Theologiegeschichtlich betrachtet, sind die in den Evangelien überlieferten Todesdeutungen Jesu oft unterschätzt worden, weil sie erzählte Deutungen sind und nicht den selben Grad der Explikation und Reflexion haben wie die der Bekenntnisse und Briefe. Deshalb müssen sie neu entdeckt und theologisch gewürdigt werden. Sie knüpfen zahlreiche Verbindungen sowohl zur Leidenstheologie Israels als auch zum urchristlichen Glaubensbekenntnis, in dessen Horizont die Überlieferung sich gebildet hat, aber sie spiegeln auf Jesus selbst zurück und erhellen den Hintergrund, in dem die Passionsgeschichten erzählt, was sich ereignet hat.


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