Lektion 3 - Die Passung zum rechtshistorischen Rahmen

Die neutestamentlichen Evangelien sind nicht die unwichtigsten Quellen, aber sie sind nicht neutral und z.T. vieldeutig. 

Im Wesentlichen passen die Prozessberichte in den rechtshistorischen Rahmen, der für römische Kapitalprozesse in Judäa (das zur kaiserlichen Provinz Syrien gehörte) um 30 n. Chr. rekonstruiert werden kann. Vieles bleibt allerdings unsicher.

Als Parallele ist der Prozess gegen Jesus ben Ananias 30 Jahre später lehrreich, von dem Josephus berichtet (De bello Judaico 5,300-309). 

Weiter ab liegen, aber dennoch zu berücksichtigen sind die Christenprozesse in Bithynien, über die sich Plinius d.J. um 130 in Briefen an Kaiser Hadrian erkundigt (epistulae X 96).


Beim Blick auf den Pilatusprozess lassen sich mit hinreichender Sicherheit wichtige Eckdaten rekonstruieren.

  • Die Kreuzesstrafe ist zur Zeit Jesu eine römische Strafe. Sie trifft Mörder, Terroristen, Aufständische. Sie wird nicht bei römischen Bürgern, sondern bei Sklaven und Provinzialen verhängt. Sie gilt als schändlichste Todesart überhaupt. Nach Dtn 21,23 (vgl. Gal 3,13) gilt: „Verflucht ist, wer am Holze hängt“: Die jüdische Strafe für Gotteslästerung ist die Steinigung. 
  • Die Kapitalgerichtsbarkeit (das ius gladii) lag, nachdem Judäa 6 n. Chr. Provinz geworden war, in den Händen der Römer (Ios., bell. 2,117; ant. 18,2). Johannes beschreibt geltendes Recht: „Uns [Juden] ist es nicht gestattet, jemand hinzurichten!“ (Joh 18,35). Vermutlich bezog sich das römische Privileg nicht nur auf die Vollstreckung, sondern auch auf die Verhängung eines Todesurteils. Nur der Prokurator persönlich kann – durch kaiserliches Mandat – einen Kapitalprozess führen. Ausnahmen, z.B. die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus (vgl. Ios., ant. 20,200, Link griech. und lat.), bestätigen die Regel; das Martyrium des Stephanus (Apg 7-8) ist ein Akt von Lynchjustiz, nachdem der Prozess aus dem Ruder läuft. Pilatus allein hat die Zwangsgewalt (coercitio); er hat sich ein eigenes Urteil gebildet; er hat Jesus zum Tode verurteilt und durch seine Soldaten das Urteilvollstrecken lassen. 
  • Pilatus wird nicht aus eigener Initiative, sondern aufgrund einer Beschuldigung tätig, die im wesentlichen vom Hohepriester verantwortet wird. Jesus ben Ananias ist ein Beispiel. 
  • Der harte Kern aller vier Berichte ist die (römisch gestellte) Frage: „Bist du der König der Juden?“ samt der vielsagenden Antwort „Du sagst es“ und dem Schweigen Jesu. Mit hinreichender Sicherheit kann daraus auf eine Anklage wegen Staatsverbrechens (perduellio) oder Majestätsverbrechen (crimen maiestatis imminutae) geschlossen werden. Johannes baut mit Hilfe „theologischer Rhetorik“ (Klaus Rosen) den Grundstock aus; dass er zusätzliche Erinnerungen aufnimmt, wird von der Forschung nahezu einhellig abgelehnt, ist aber doch in Erwägung zu ziehen. 

In diesem Rahmen sind allerdings einzelne Aspekte strittig. 

  • Strittig ist, ob Pilatus einen reinen Verwaltungsakt (recognitio) – aufgrund einer Denunziation oder einer eher formlosen Anklage – gesetzt oder einen regelrechten Prozess (pro tribunale) – aufgrund einer förmlichen Anklage – geführt hat. Die Grenzen waren wohl fließend. Die Synoptiker und Tacitus (imperitante per procuratorem) lassen an das erste denken lassen, Johannes gibt dem „Prozess“, der eher ein Strafverfahren war, zum Schluss einen offizielleren Anstrich: Pilatus „setzte sich auf seinen Richterstuhl an dem Ort, der Lithostrotos, auf hebräisch aber Gabbata heißt“ (Joh 19,13). Der Kreuzestitulus weist auf ein Urteil des Pilatus. 
  • Strittig ist, ob das „Du sagst es!“ (Mk 15,2; Mt 27,11; Lk 23,3; vgl. Joh 18,34) als Geständnis (confessio) oder das Schweigen Jesu als Widerspenstigkeit (contumacia) gewertet? Oder hat er dem Druck der Menge nachgegeben und wollte den Hohepriestern einen Gefallen tun? Hat er aus dem Verhalten Jesu und den aufregenden Umständen genug Anhaltspunkte gehabt, um Unruhestiftung (seditio) zu erkennen? Die neutestamentlichen Berichte betonen, dass Pilatus eigentlich von Jesu Unschuld überzeugt gewesen sei und ihn wider besseres Wissen doch verurteilt habe, um seine Position vor der Öffentlichkeit zu wahren. Die Botschaft: Wäre es nach (römischem) Recht und Gesetz gegangen, hätte Jesus freigelassen werden müssen; Pilatus aber war ein schlechter Richter und Sachwalter Roms. Die apologetische Absicht ist unverkennbar, die historische Substanz unsicher. Am wahrscheinlichsten ist ein Akt politischer Justiz. 


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