Philipp Jakob Spener entwickelte mit seiner Schrift Pia Desideria eine theologische Reformbewegung, die eine Neuorientierung des Glaubenslebens forderte. Im Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie legte Spener den Schwerpunkt auf die praktische Frömmigkeit. Die Orthodoxie betonte die Bedeutung der reinen Lehre und der Sakramente, wobei sie sich auf eine strenge Dogmatik und die Vermittlerrolle der Geistlichen stĂŒtzte. FĂŒr Spener hingegen war der Glaube untrennbar mit dem ethischen Handeln verbunden. Der christliche Glaube musste sich im alltĂ€glichen Leben durch Taten der Liebe und der Heiligung beweisen, nicht nur durch korrekte theologische Lehren.
Das allgemeine Priestertum aller GlĂ€ubigen war fĂŒr Spener von entscheidender Bedeutung. Im Unterschied zur orthodoxen Theologie, die den Klerus als Vermittler zwischen Gott und den GlĂ€ubigen in den Mittelpunkt stellte, forderte Spener, dass jeder Christ Verantwortung fĂŒr seinen Glauben ĂŒbernimmt. Er legte groĂen Wert auf die BibellektĂŒre und die aktive Beteiligung aller Christen an der kirchlichen Gemeinschaft. Dies fĂŒhrte zu Bibelkreisen und einer aktiven Frömmigkeitspraxis. Die Orthodoxie sah hierin eine Bedrohung fĂŒr die kirchliche Ordnung, da die Hierarchie infrage gestellt wurde. WĂ€hrend die lutherische Orthodoxie die Interpretation der Bibel den ausgebildeten Theologen vorbehielt, wollte Spener, dass die Schrift fĂŒr jeden GlĂ€ubigen zugĂ€nglich ist.
In seiner Forderung nach einem ethisch vorbildlichen Lebenswandel stellte Spener hohe AnsprĂŒche an die Theologieprofessoren. Sie sollten nicht nur in der Lehre gut sein, sondern auch als geistliche Vorbilder leben. Diese Erwartung kollidierte mit der gĂ€ngigen Auffassung der Orthodoxie, die eine scharfe Trennung zwischen Theologie als akademischer Disziplin und persönlicher Frömmigkeit vornahm. Spener glaubte, dass Theologie mehr als Wissenschaft ist: Sie muss eine lebendige Kraft sein, die den Menschen formt und zu einem heiligen Leben fĂŒhrt. Man erkennt hier wieder die NĂ€he zu Luther, welcher auch einen groĂen Wert auf die Bildung legte.
Die reformierte Theologie, besonders in der calvinistischen Tradition, unterschied sich in der Betonung der SouverĂ€nitĂ€t Gottes und der PrĂ€destination. Auch hier gibt es Ăberschneidungen mit Speners Anliegen. Doch wĂ€hrend die Reformierten eine strenge Kirchenzucht und klar definierte theologische Ordnungen forderten, ging Spener einen anderen Weg. Er legte den Fokus auf die persönliche Heiligung und die geistliche Erneuerung, die aus der Kraft des Heiligen Geistes hervorgeht. Speners Theologie war christozentrisch und praxisorientiert, und er wollte eine Kirche, die nicht nur die Gnade Gottes verkĂŒndigt, sondern auch die ethische Transformation des Einzelnen ermöglicht. Spener war letztendlich kein Dogmatiker, sondern, wie Luther, ein Exeget.
Sein VerhÀltnis zur Mystik und seine Betonung der Wiedergeburt zeugen von seiner spirituellen Tiefe. Die Idee eines inneren Stufenweges des Heils verband sich mit seiner Vorstellung, dass wahre Frömmigkeit aus der VerÀnderung des Herzens erwÀchst. Dabei distanzierte er sich jedoch von extremen Strömungen, die die kirchliche Ordnung ablehnten. Spener sah die Notwendigkeit einer Erneuerung durch den Heiligen Geist, ohne die lutherische Rechtfertigungslehre zu verwÀssern.
Die ReformvorschlĂ€ge Speners fĂŒhrten zu erheblichem Widerstand (er musste Dresden verlassen), besonders seitens der orthodoxen Theologen. Doch seine Ideen fanden auch UnterstĂŒtzer, etwa in reformwilligen FĂŒrsten. Einige seiner VorschlĂ€ge, wie die Reform der Einzelbeichte, wurden tatsĂ€chlich umgesetzt, was die nachhaltige Wirkung seiner Theologie zeigt, auch wenn er die heutige Situation nicht wollte. Spener blieb ein reformorientierter Lutheraner, der jedoch eine tiefergehende geistliche Praxis forderte. Seine Theologie ist nicht nur eine Kritik an der dogmatischen Erstarrung der Orthodoxie, sondern auch eine Vision einer Kirche, die durch gelebten Glauben und aktive NĂ€chstenliebe erneuert wird.