Der Schelmenroman, auch bekannt als pikarischer oder Pícaro-Roman (span. novela picaresca), hat die europäische Narrativik weit über die Frühe Neuzeit hinaus geprägt und sich in vielen Literaturen als sehr erfolgreiche Gattung etabliert. Seinen Ursprung hat er im Spanien des sog. Goldenen Zeitalters (Siglo de Oro), das bei genauer Betrachtung aber eher eine Zeit der Krisen und Kriege war. Die dennoch blühende Literatur antwortet auf diese Herausforderungen mit einem neuen (Anti‑)Helden: einem jungen Mann, seltener auch einer Frau, aus dem dritten Stand, jedenfalls aus prekären Verhältnissen. Diese Figur muß sich selbst in der Welt behaupten und sich als Diener(in) vieler Herren verdingen, um zu überleben oder sogar gesellschaftlich aufzusteigen. Oft am Rande der Legalität und darüber hinaus agierend, hält der ‚Schelm‘ der damaligen Gesellschaft kritisch den Spiegel vor. In Spannung zum ‚hohen‘ höfischen Roman bzw. in Spanien zum Ritterroman, dessen adliges Personal (in der dritten Person erzählt) zu allegorischer Entschlüsselung einlädt, erzählt im Pikaroroman ein Ich ‚von unten‘, entsprechend liest sich seine Lebensgeschichte wie eine abenteuerliche Autobiographie.

Im Seminar wollen wir einen spanischen und einen deutschen Gründungstext dieser Gattung exemplarisch erkunden und vergleichen: Lazarillo de Tormes (1554) und Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch (1668/69). Diese beiden Texte müssen in folgenden Ausgaben angeschafft werden: Lazarillo de Tormes. Klein Lazarus vom Tormes (Reclams Universal-Bibliothek 18481, zweisprachig spanisch-deutsch). Grimmelshausen. Simplicissimus Teutsch. Text und Kommentar (DKV Taschenbuch 2). Der Lazarillo wurde bereits 1614 ins Deutsche übersetzt, doch ist der entsprechende Reclam-Band leider nur noch antiquarisch zu beschaffen (Leben und Wandel Lazaril von Tormes, Reclams Universal-Bibliothek 1389). Da diese frühe Übersetzung aber die zeitgenössische Rezeption des spanischen Texts im deutschen Sprachraum dokumentiert, wollen wir sie (in moodle) vergleichend mit heranziehen. Flankierend werden wir Auszüge aus weiteren Pikaroromanen einbeziehen, insbes. aus El Buscón von Francisco de Quevedo und aus Grimmelshausens Courasche (eine Pícara), die über moodle bereitgestellt werden. Parallel wollen wir auch immer wieder in die Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts schauen, die wir ebenfalls in digitalen Faksimiles über moodle zur Verfügung stellen.

Teilnahmevoraussetzungen: Das Seminar wendet sich an Studierende der Hispanistik und der Germanistik, Spanischkenntnisse sind für die germanistischen Teilnehmer/innen keine Voraussetzung, aber natürlich sehr willkommen. Von Studierenden der Hispanistik wird erwartet, sich auch mit der komplexen Sprache der deutschen Barockliteratur auseinanderzusetzen. Als Teilnehmer gilt, wer bis zur ersten Sitzung den (relativ kurzen) Lazarillo und die ersten beiden Bücher des Simplicissimus liest und uns beiden bis zum 14. April auf 2–3 Seiten erste eigene Lesebeobachtungen und Fragen zu den Texten zuschickt (christian.gruennagel@rub.de UND nicola.kaminski@rub.de).

Voraussetzung für einen Teilnahmenachweis sind regelmäßige aktive Mitarbeit sowie die Übernahme der Moderation einer Seminarsitzung. Außerdem muß jede/r Teilnehmer/in ab der zweiten Sitzung für jede Sitzung auf der Grundlage des Seminarplans und der vorbereitenden Lektüre ein halbseitiges Exposé erstellen. Für einen Leistungsnachweis ist in der Germanistik zusätzlich eine schriftliche Hausarbeit (25 Seiten) anzufertigen oder eine halbstündige mündliche Prüfung zu absolvieren, in der Hispanistik gelten die entsprechenden Vorgaben der jeweiligen Modulbeschreibungen. Studierende der Hispanistik können das Thema auch für eine MAP ‚fachwissenschaftliche Methodiken‘ (Literaturwissenschaft) wählen.

Hinweise zum Seminarablauf: Ein textzentriertes Seminar mit Studierenden zweier Fächer und zwei Seminarleitern lebt aus der Interaktion gemeinsamer Diskussion in der Präsenz. Wir werden, sobald die Situation es irgendwie erlaubt, von der digitalen Lehre (teils synchron, teils asynchron) auf Präsenz umstellen. Die grundsätzliche Bereitschaft dazu ist Teilnahmevoraussetzung. Die erste Sitzung wird am 21. April zur angegebenen Seminarzeit per Zoom stattfinden. Die Veranstaltungsdaten dafür schicken wir Ihnen als Antwort auf Ihre Lesebeobachtungen (s.o.) per Mail zu. Ein Anmeldeverfahren wird nicht eingerichtet, die manuelle Anmeldung in eCampus erfolgt nach der ersten Sitzung durch die Seminarleitung.

Semester: WiSe 2024/25