Man kann viele Dinge, die wir in diesem Kapitel bisher behandelt haben, auch auf eine etwas abstraktere Art betrachten. Das hat den Vorteil, dass man sich einerseits noch einmal klar macht, welche Eigenschaften und Rechenregeln man fortlaufend benutzt und es bietet die Chance, diese Konzepte ohne allzu viel Aufwand auf neue Situationen zu übertragen. Man startet hier nicht mit einer geometrischen Anschauung wie in Kapitel 2, sondern definiert Vektoren als "Elemente eines Vektorraums", d.h. als völlig abstrakte Objekte, die aber gewisse Eigenschaften erfüllen:

Definition (reeller Vektorraum):
Ein Vektorraum ist eine nichtleere Menge \(V\) mit einer Vektoraddition \(+ : V \times V \to V\) und einem ausgezeichneten Element \(\vec{0} \in V\) (dem "Nullvektor"), so dass für alle \(\vec{x},\vec{y}, \vec{z} \in V\) folgende Regeln gelten:

  • \(\;\;\;\;(\vec{x} + \vec{y}) + \vec{z} = \vec{x} + (\vec{y} + \vec{z})\)

  • \(\;\;\;\;\vec{x} + \vec{0} = x\)

  • \(\;\;\;\;\) zu jedem \(\vec{x}\in V\) existiert genau ein Element von \(V\) , genannt \(-\vec{x}\), mit \(\vec{x} + (-\vec{x}) = \vec{0}\).

  • \(\;\;\;\;\vec{x} + \vec{y} = \vec{y} + \vec{x}\)

Außerdem sei \(\cdot : \mathbb {R} \times V \to V\) eine Abbildung, skalare Multiplikation genannt, die folgenden Regeln genügt: Für \(\vec{x}, \vec{y} \in V\) und \(\alpha , \beta \in \mathbb{R}\) gilt:

  • \(\;\;\;\;\alpha \cdot (\vec{x} + \vec{y}) = \alpha \cdot \vec{x} + \alpha \cdot \vec{y}\)

  • \(\;\;\;\;(\alpha + \beta ) \cdot \vec{x} = \alpha \cdot \vec{x} + \beta \cdot \vec{x}\)

  • \(\;\;\;\;\alpha \cdot (\beta \cdot \vec{x}) = (\alpha \beta ) \cdot \vec{x}\)

  • \(\;\;\;\; 1 \cdot \vec{x} = \vec{x}\)

Die Elemente von \(V\) nennt man Vektoren.

Das Paradebeispiel für einen reellen Vektorraum (und damit die Motivation für diese ganze Definition) ist der \(\mathbb {R}^n\), aber es gibt auch jede Menge andere Vektorräume:

Beispiele:
  • die Menge aller \(m\times n\)-Matrizen mit reellen Koeffizienten ist ein reeller Vektorraum, denn wenn man Matrizen derselben Größe addiert oder mit einer reellen Zahl multipliziert, gelten genau die oben angegebenen Regeln. Davon kann man sich leicht überzeugen. Der "Nullvektor" ist in diesem Fall die Matrix, deren Einträge alle Null sind.

  • die Menge aller Polynome mit reellen Koeffizienten ist ein solcher Vektorraum. Für zwei beliebige Polynome p und q gegeben als

    \(\begin{array}{rcl}p(x)&=&a_0+a_1x+a_2x^2+\ldots+a_nx^n\\q(x)&=&b_0+b_1x+b_2x^2+\ldots+b_mx^m\end{array}\)

    mit beispielsweise \(m\geq n\) ist dann

    \(\begin{array}{rcl}(\lambda\cdot p)(x)&=&\lambda a_0+\lambda a_1x+\lambda a_2x^2+\ldots+\lambda a_nx^n,\\(p+q)(x)&=&(a_0+b_0)+(a_1+b_1)x+\ldots+(a_n+b_n)x^n+\ldots+a_mx^m\end{array}\)

    und auch hier ist es nicht schwer nachzurechnen, dass die oben angegebenen Vektorraumeigenschaften alle erfüllt sind. Der "Nullvektor" ist in diesem Fall das konstante (Null-)Polynom \(n(x)=0\).

    Interessant an diesem Beispiel ist, dass es in diesem Vektorraum unendlich viele linear unabhängige "‘Vektoren"’ gibt, zum Beispiel \(1,x,x^2,x^3,x^4,\ldots\)

Zuletzt geändert: Samstag, 26. Januar 2019, 00:05