10.1 Einleitung: Folgen und Grenzwerte

Funktionen sind ein wesentliches Hilfsmittel zur quantitativen Beschreibung vieler ZusammenhĂ€nge und VorgĂ€nge: Aus der Schule kennen Sie das Ohmsche Gesetz, nach dem der in einer Leitung fließende Strom eine Funktion von Spannung und Widerstand ist.

In der Mechanik ist die Schubspannung

\(\tau=G\cdot\tan(\gamma)\)

eine Funktion des Schubmoduls \(G\) und des Schubwinkels \(\gamma \).

Schubmodul

In vielen Situationen treten lineare Funktionen auf, die die ProportionalitĂ€t zwischen verschiedenen GrĂ¶ĂŸen beschreiben, aber oft ist dieser lineare Zusammenhang nur fĂŒr einen gewissen Bereich gĂŒltig und muss durch einen kompliziertere Funktion ersetzt werden, wenn man diesen Bereich ĂŒberschreitet.

Einige Eigenschaften der Funktionen erkennt man am besten, wenn man sich bestimmte GrenzfĂ€lle anschaut. Beispielsweise wird der \(\tan (\gamma )\) sehr groß, wenn der Winkel \(\gamma \) sich dem Wert \(\displaystyle\frac {\pi }{2}\) annĂ€hert. Das entspricht anschaulich der Vorstellung, dass man eine immer grĂ¶ĂŸere Kraft aufwenden muss, um den Scherwinkel zu vergrĂ¶ĂŸern,

Umgekehrt kann man aber auch den Grenzwert kleiner Scherwinkel \(\gamma\) betrachten, zum Beispiel wenn \(\gamma<10^\circ\) ist. Dort unterscheiden sich \(\tan (\gamma )\) und der Winkel \(\gamma\) nur wenig und bei vielen Rechnungen kann man sich das Leben leichter machen, wenn man statt mit \(\tan (\gamma )\) nur mit \(\gamma \) rechnet.

Wie in diesem Fall gibt es viele Situationen, in denen GrenzĂŒbergĂ€nge eine komplizierte Situation oder Rechnung vereinfachen.

Grenzwerte von Funktionen

Beispiel (Kesselformel):

Ein BehĂ€lter wird nach DIN 2413 als dĂŒnnwandig bezeichnet, falls das VerhĂ€ltnis zwischen WandstĂ€rke \(s\) und Innendurchmesser \(d_ i\) kleiner als \(0,1\) ist. Herrscht im Inneren eines abgeschlossenen, zylinderförmigen dĂŒnnwandigen BehĂ€lters ein Überdruck \(p_ i\) so fĂŒhrt dies zu einer Ausdehnung und damit verbunden zu Spannungen in der Wand. Die Tangentialspannung \(\sigma _ t=\displaystyle\frac {p_ i\cdot d_ i}{2s}\) wirkt in Richtung

Die axiale Spannung \(\sigma _ a\) in Richtung der Zylinderachse

Bei dĂŒnnwandigen BehĂ€ltern setzt man voraus, dass diese Spannung innerhalb der Wand konstant ist.

Figures/kesselspannungen

Aus einer Gleichgewichtsbedingung ergibt sich dann die Gleichung

\(\begin{array}{rcl}p_i\underbrace{\displaystyle\frac{\pi}{4}d_i^2}_{\text{innere QuerschnittsflÀche }}&=&\sigma_a\cdot\underbrace{\displaystyle\frac{\pi}{4}((d_i+s)^2-d_i^2)}_{\text{QuerschnittsflÀche der Wand}}\\&=&\sigma_a\cdot\displaystyle\frac{\pi}{4}(d_i^2+4sd_i+4s^2-d_i^2)\\ \Leftrightarrow p_id_i^2&=&\sigma_a\cdot(4sd_i+4s^2)\\ \Leftrightarrow\sigma_a&=&\displaystyle\frac{p_id_i^2}{4sd_i+4s^2}\end{array}\)

Nun ist \(s\) viel kleiner als \(d_ i\) und damit \(4s^2\) auch viel kleiner als \(4sd_ i\).
Beim GrenzĂŒbergang \(s\to 0\) ("Wanddicke ist vernachlĂ€ssigbar klein gegenĂŒber dem Kesseldurchmesser") kann man den Term \(4s^2\) daher vernachlĂ€ssigen (=weglassen). Dies fĂŒhrt auf die wesentlich einfachere "‘Kesselformel"’

\(\sigma_a=\displaystyle\frac{p_id_i}{4s}=\displaystyle\frac{\sigma_t}{2}\)

Dieser Zusammenhang zwischen \(\sigma _ a\) und \(\sigma _ t\) hat ĂŒbrigens eine recht anschauliche Auswirkung: BratwĂŒrste platzen beim Erhitzen auf dem Grill immer in LĂ€ngsrichtung auf, da die Umfangsspannung doppelt so groß ist wie die Spannung in LĂ€ngsrichtung.


Wie in diesem Beispiel helfen Grenzwertbetrachtungen in vielen FĂ€llen unter mehreren Effekten denjenigen auszusondern, der fĂŒr dĂŒnne WĂ€nde, lange Seile, große Biegesteifigkeit, etc. den entscheidenden Beitrag liefert. Grenzwerte spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, sinnvolle Vereinfachungen durchzufĂŒhren. DarĂŒber hinaus erlauben Sie auch zu quantifizieren, welche Fehler bei diesen Vereinfachungen auftreten.

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Last modified: Saturday, 26 January 2019, 12:25 AM