16.2 Trennung der Variablen

Eine Differentialgleichung der Form

$\dot{x}=f(t)g(x)$

nennt man eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen.

Für das zugehörige Anfangswertproblem

$\left\{\begin{array}{ccl}\dot{x}&=&f(t)g( x),\quad x\in\mathbb{R}\\x(t_0)&=&x_0\end{array}\right.$

mit stetigen Funktionen $f$ und $g$ lässt sich die Lösung wie folgt ermitteln:
W ir nehmen zunächst an, wir hätten schon eine Lösung $x:[t_0,T]\rightarrow \mathbb{R}$ des Anfangswertproblems gefunden, für die gilt $g(x(t))\neq 0$ ist für alle $t\in [t_0,T]$.

Dann kann man die Differentialgleichung ohne Probleme durch $g(x(t))$ teilen und auf beiden Seiten von $t_0$ bis $t$ integrieren, So erhält man die zunächst unhandlich aussehende Gleichung

$\displaystyle\int\limits_{t_0}^t\dfrac{\dot{x}(\tau)\;d\tau}{g(x(\tau))}=\int\limits_{t_0}^tf(\tau)\;d\tau,$

und nach der Substitution $u=x(\tau )$, $\mathrm{d}u=\dot{x}(\tau )\, \mathrm{d}\tau $

$\int\limits_{x_0}^{x(t)}\dfrac{\mathrm{d}u}{g(u)}=\int\limits_{t_0}^tf(\tau)\,\mathrm{d}\tau.$

An dieser Stelle hängt es nun von den konkreten Funktionen $f$ und $g$ ab, ob man die beiden Integrale explizit berechnen kann. Abstrakt können wir aber mit Hilfe des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung auf jeden Fall

$G(x):=\int\limits_{x_0}^{x}\dfrac{\mathrm{d}u}{g(u)}$

definieren, d.h. $G$ soll eine Stammfunktion von $\dfrac{1}{g}$ mit $G(x_0)=0$ sein. Genauso können wir eine Stammfunktion $F$ von $f$ mit $F(t_0)=0$ durch

$F(t):=\int\limits_{t_0}^tf(\tau)\,\mathrm{d}\tau$

festlegen. Dadurch geht die Gleichung über in die Form

$G(x(t))=F(t)$


Weil wir vorausgesetzt hatten, dass $g(x(t))\neq 0$ ist, wechselt auch $g(u)$ nie das Vorzeichen und die Funktion $G$ ist streng monoton (wachsend oder fallend). Monotone Funktionen sind aber umkehrbar, zu $G$ gibt es also eine Umkehrfunktion $G^{-1}$ und wir können die Lösung des Anfangswertproblems als

$x(t)=G^{-1}(F(t))$

hinschreiben. Für eine konkrete Differentialgleichung ist allerdings wieder nicht sicher, dass man die Umkehrfunktion $G^{-1}$ explizit hinschreiben kann.

Erweitert man die bisherigen Überlegungen noch etwas, erhält man den folgenden Satz, der noch eine Eindeutigkeitsaussage beinhaltet.

Satz (Trennung der Variablen):
Betrachte die Differentialgleichung

$\dot{x}=f(t)g(x)$

mit stetigen Funktionen $f$ und $g$ und dem Anfangswert $x(t_0)=x_0$.

  • Falls $g(x_0)=0$, dann ist $x(t)\equiv x_0$ eine Lösung des Anfangswertproblems.

  • Falls $g(x_0)\neq 0$, dann existiert ein offenes Intervall $(t_0-\delta ,t_0+\delta )$ um $t=t_0$, so dass das Anfangswertproblem auf $(t_0-\delta ,t_0+\delta )$ genau eine Lösung besitzt.
    Diese Lösung erhält man durch Auflösen der Gleichung

    $\int\limits_{x_0}^{x(t)}\dfrac{\mathrm{d}u}{g(u)}=\int\limits_{t_0}^tf(\tau)\,\mathrm{d}\tau.$

    nach $x(t)$.

Beispiel (Explosion, "blow up"):
Die Differentialgleichung

$\dot{x}(t)=x(t)^2$

mit Anfangswert $x(0)=x_0$ lässt sich durch Trennung der Variablen lösen:

$\begin{array}{rrcl}&\int\limits_{x_0}^{x(t)}\dfrac{\mathrm{d}u}{u^2}&=&\int\limits_0^t d\tau\\ \Longleftrightarrow&\dfrac{1}{x_0}-\dfrac{1}{x(t)}&=&t\\\Longleftrightarrow&\hspace{6ex}x(t)&=&\dfrac{1}{t-\frac{1}{x_0}}\end{array}$

Für $x_0>0$ etwa existiert diese Lösung also nur bis $t_{max}=\dfrac{1}{x_0}$.

Beispiel (Freier Fall):
Sei $v(t)$ die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers, auf den Gravitation und Luftwiderstand wirken. Wenn die Geschwindigkeitsänderung durch den Luftwiderstand proportional zu $v^2$ ist, dann gilt

$\dot{v}(t)=g-cv^2.$

Der Einfachheit halber wählen wir als Konstanten $g=c=1$ und lösen

$\dot{v}(t)=1-v^2$

mit einer Anfangsgeschwindigkeit $v(0)=v_0\in [0,1)$. Mit der Methode der Trennung der Variablen findet man die Lösung wie folgt:

$\begin{array}{rrcl}&\int\limits_{v_0}^{v(t)}\dfrac{\mathrm{d}u}{1-u^2}&=&\int\limits_0^td\tau\\
\Leftrightarrow&\frac{1}{2}\int\limits_{v_0}^{v(t)}\dfrac{\mathrm{d}u}{1-u}+\dfrac{1}{2}\int\limits_{v_0}^{v(t)}\dfrac{\mathrm{d}u}{1+u}&=&t\\
\Leftrightarrow&\frac{1}{2}\ln\dfrac{1-v_0}{1-v(t)}+\frac{1}{2}\ln\dfrac{1+v(t)}{1+v_0}&=&t\\
\Leftrightarrow&\dfrac{(1+v(t))(1-v_0)}{(1-v(t))(1+v_0)}&=&e^{2t}\\
\Leftrightarrow&v(t)&=&\dfrac{1+v_0-e^{-2t}(1-v_0)}{1+v_0+e^{-2t}(1-v_0)}\end{array}$

Für $t\to \infty $ ist wegen $\lim \limits _{t\to \infty }e^{-2t}=0$ also $\lim \limits _{t\to \infty }v(t)=1$. Die Geschwindigkeit nähert sich daher immer mehr dem Gleichgewichtswert $v=1$ an.

Beispiel:
Ist $\dot x(t)=f(at+bx(t)+c)$, so erfüllt $y(t):=at+bx(t)+c$ die Differentialgleichung

$\dot{y}(t)=a+b\dot{x}(t)=a+bf(y(t)).$

Dies können wir mit Trennung der Variablen lösen. Wir betrachten ein konkretes Beispiel und gehen dieses mal ein klein wenig anders vor als bisher, indem wir zunächst nur unbestimmte Integrale benutzen und erst bei der Festlegung der Integrationskonstanten die Anfangsbedingung ins Spiel bringen. Das Anfangswertproblem

$\dot{x}(t)=(t+x(t))^2,\;\;x(t_0)=x_0$

löst man, indem man zunächst $y(t)=t+x(t)$ setzt. Durch Differenzieren findet man für $y$ die Differentialgleichung

$\dot{y}(t)=1+y^2(t).$

Wir benötigen dafür zunächst eine Stammfunktion.

$\int\limits\dfrac{1}{1+y^2}\,\mathrm{d}y=\arctan( y)+C.$

Die Integrationskonstante ist dabei natürlich beliebig. Wir erhalten weiter

$\begin{array}{rcl}\int\limits\dfrac{\dot{y}(t)}{1+y^2(t)}\,dt&=&\,\int1\,dt,\\
\arctan y( t)&=&\,t-t_0\end{array}$

wobei $t_0$ so gewählt werden muss, dass die Anfangsbedingung erfüllt ist. Also ist $y(t)=\tan (t-t_0)$ und damit $x(t)=\, \tan (t-t_0)-t$ die gesuchte Lösung.

Beispiel (Kettenlinie):

KettenlinieIn Kapitel 11 wurde bei den Hyperbelfunktionen bereits angesprochen, dass der Cosinus hyperbolicus auch als Kettenlinie bekannt ist, weil er die Form eines an zwei Punkten befestigten Seils unter dem Einfluss seines eigenen Gewichts angibt.

Beschreibt man das Seil durch den Graphen einer Funktion $y(x)$, dann führen Überlegungen aus der Mechnik über die Kräfte im Seil auf die Differentialgleichung

$v’(x)=\dfrac{1}{c}\sqrt{1+v^2}$

für die Ableitung $v(x) = y’(x)$, wobei die Konstante $c$ mit der Länge des Seils und der Höhe und dem Abstand der Befestigungspunkte zu tun hat.

Diese Differentialgleichung lässt sich mittels Trennung der Variablen lösen:

$\int\limits_{v_0}^{v(x)}\dfrac{c}{\sqrt{1+v^2}}\,\mathrm{d}v=\int\limits_{x_0}^x\,\mathrm{d}x$

und wir finden mit der Substitution $v=\sinh (u)$

$c(u-u_0)=x-x_0{\Rightarrow}\;\;c(\mathrm{Arsinh}(v(x))-\mathrm{Arsinh}(v_0))=x-x_0$

Wählt man $x_0$ so, dass dort der Tiefpunkt des durchhängenden Seils ist, also $v_0=v(x_0)=y’(x_0)=0$, so ergibt sich daraus

$v(x)=\sinh\left(\dfrac{x}{c}\right)$

und nochmalige Integration liefert

$y(x)=c\cosh\left(\dfrac{x}{c}\right)+C_1$

Última modificación: viernes, 28 de agosto de 2015, 16:53