Richard Rothe bewegt sich mit seinen theologischen Ansätzen in einem Spannungsfeld, das sowohl Zustimmung als auch Kritik hervorruft bei Dogmatikern. Ich beziehe mich auf Folie 28. Für ihn sprechen unter anderem Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl, während Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer eher zu seinen Kritikern zu zählen sind. Schleiermacher legte großen Wert auf die Verbindung von Glauben und Erfahrung, was Rothe aufgriff und in eine ethisch und geschichtlich orientierte Richtung weiterführte. Diese Bewegung finde ich sehr gut. Beide betonten die Bedeutung der subjektiven Glaubenserfahrung, wobei Rothe zusätzlich die Dynamik der Offenbarung und ihre fortschreitende Wirksamkeit in der Geschichte betonte. Dynamik sehe ich immer als etwas sehr Positives und Modernes. Auch Albrecht Ritschl unterstützt indirekt Rothes Ansatz, indem er die praktische Auswirkung des Glaubens und die christliche Sittlichkeit in den Mittelpunkt seiner Theologie stellte. Ritschls Auffassung, dass Theologie die ethische Erneuerung des Menschen und die Gestaltung der Gesellschaft fördern müsse, steht in engem Einklang mit Rothes Betonung der Ethik als Kern der Dogmatik.
Kritik an Rothe kommt dagegen von Karl Barth, der einen grundlegend anderen Offenbarungsbegriff vertrat. Barth lehnte die Vorstellung einer fortschreitenden Offenbarung entschieden ab und sah die Offenbarung Gottes ausschließlich in Jesus Christus und der Schrift als vollendet. Barth hätte Rothe vorgeworfen, die biblische Offenbarung zu relativieren, indem er sie in einen Prozess der geschichtlichen Entwicklung stellt. Für Barth ist die Schrift die absolute Autorität und nicht Teil eines größeren geschichtlichen Zusammenhangs. Diese klare Abgrenzung zeigt, dass Barth Rothe als zu liberal und kulturbezogen empfunden hätte.
Auch Dietrich Bonhoeffer kritisierte indirekt ähnliche Ansätze, wie sie bei Rothe zu finden sind. Bonhoeffer betonte die konkrete Verankerung der Kirche in der Welt und sah in ihr einen unverzichtbaren Ort der Offenbarung. Rothe hingegen reduzierte die Kirche auf eine Durchgangsstufe hin zu einer idealen sittlichen Gemeinschaft, was Bonhoeffer wohl als Abwertung des kirchlichen Lebens verstanden hätte. Die Ekklesia war für Bonhoeffer sehr wichtig (dies sieht man bei seiner Kirchenzucht). Bonhoeffer hätte jedoch Rothes Betonung der Ethik und der praktischen Auswirkungen des Glaubens geschätzt, da auch er der Meinung war, dass christlicher Glaube in konkretem Handeln sichtbar werden muss. Dennoch liegt ein deutlicher Bruch darin, wie beide das Verhältnis von Offenbarung und Welt verstehen. Bonhoeffer bleibt bei Christus und seiner Menschlichkeit als Maßstab, während Rothe stärker auf die kulturelle und geschichtliche Einheit von Glauben und Wissen zielt.
Eberhard Jüngel könnte Rothes Ansatz der fortschreitenden Offenbarung kritisch sehen. Für Jüngel bleibt Gottes Offenbarung ein einzigartiges Ereignis, das sich in der Person Jesu Christi vollzieht und durch das Wort vermittelt wird. Er lehnt die Vorstellung ab, dass Offenbarung sich durch Geschichte oder Kultur weiterentwickelt, wie Rothe es beschreibt. Jüngel würde betonen, dass Gott nicht in menschlichen Prozessen aufgeht, sondern der „ganz Andere“ bleibt, der sich nur in der Beziehung zum Menschen und durch das Kreuz Christi erschließt. Dennoch könnte Jüngel Rothes Fokus auf die Ethik als Frucht des Glaubens schätzen, da auch für ihn der Glaube konkrete Auswirkungen im Leben des Menschen haben muss.
Ich denke, Richard Rothe bleibt ein faszinierender Denker, der die Spannungen zwischen Glauben, Geschichte und Ethik in der Theologie sichtbar macht. Seine Betonung der fortschreitenden Offenbarung und der Ethik bietet wichtige Ansätze für eine moderne Dogmatik. Gleichzeitig zeigt die Kritik von Barth und Bonhoeffer, dass seine Ansätze klare Grenzen haben, insbesondere, wenn es um die Unabhängigkeit der Offenbarung von geschichtlicher und kultureller Entwicklung geht. Diese Kontroverse macht Rothe zu einem Theologen, der immer wieder neu gelesen und kritisch reflektiert werden sollte und der mehr Aufmerksam bekommen muss. Eine fortschreitende Dogmatik, welche dynamisch und nicht vollendet ist, ist sehr positiv für die heutige Zeit.