Zunächst ist festzuhalten, dass sowohl in der Orthodoxie („…mit der wahren Erkenntnis und dem wahren Bekenntnis Gott in Wort und Tat wahrhaft zu verehren" ) als auch im Pietismus („Also dürfen wir Gott nirgend anders, wenn wir ihn finden wollen, als in unserem Herzen suchen, wo er sich finden, von uns anbeten lassen und unseren Dienst annehmen will“) die Verehrung Gottes im Zentrum steht. Allerdings unterscheiden sich die Methoden, die zu diesem Ziel führen, voneinander. Während dogmatische Fragen, auch in Abgrenzung zur katholischen Kirche, für die Orthodoxie von zentraler Bedeutung sind, wird das Ringen um die wahre Lehre im Pietismus als "Zanksachen und Sophisterei" abgewertet und als irrelevant erachtet. Der Pietismus fokussiert sich auf Bibelstudium, das allgemeine Priestertum und eine tiefe Herzensfrömmigkeit, wobei Gott im Herzen gesucht wird und eine heilige Lebensführung als Antwort auf Gottes vorausgehende Gnade betrachtet wird. Philipp Jakob Spener hat möglicherweise nicht berücksichtigt, dass es für die Suche nach Jesus im eigenen Herzen einfacher sein kann, wenn man sich, oder andere Menschen vor einem, bereits mit dogmatischen Fragen auseinandergesetzt und sich an ihnen abgearbeitet hat.
Aus der Perspektive des Pietismus lassen sich die Anforderungen an den Lebenswandel der Professoren nachvollziehen. In Bezug auf die gegenwärtige Situation und den universitären Alltag ist zu hinterfragen, ob Studierende tatsächlich auf ihre Professor*innen als "lebendiges Muster" angewiesen sind, „um ihr Leben regulieren zu können“. In einem System, in dem weder Lehrende noch Studierende Rechenschaft über ihr Privatleben ablegen müssen, liegt ein hohes Maß an Freiheit und Selbstverantwortung, welches ich persönlich befürworte.