
Walter Benjamin ist wahrscheinlich der bedeutendste europäische Denker des Theaters der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und darüber hinaus. Benjamin wurde 1892 als Kind assimilierter jüdischer Eltern aus dem Großbürgertum in Berlin geboren; 1940 nahm er sich auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Deutschland in Port Bou an der französischen Grenze zu Spanien das Leben, da ihm die Einreise verwehrt wurde. Benjamin stand in engem Austausch mit Bertolt Brecht, Asja Lacis, Theodor W. Adorno und zahlreichen anderen Exponent:innen des intellektuellen und kulturellen Lebens der Weimarer Republik und des Europas zwischen den Weltkriegen.
Benjamins Texte eignen sich in besonderer Weise als Ausgangspunkt für theaterwissenschaftliche Reflektionen. Schon sein Schreiben ist „theatral“ – indem Benjamin auf festgelegte Begriffe verzichtet und gleichsam jedes Phänomen auf einer spezifischen Bühne ausstellt; indem er Sprachbilder entwirft, die keine abgeschlossene Anschauung ermöglichen, sondern die stetige Re-Lektüre erfordern. Seine theater- und medienästhetischen Überlegungen sind nach wie vor von großer Aktualität: Benjamin untersucht das barocke Trauerspiel als ein spezifisch neuzeitliches Theater, das mit der griechischen Tragödie nicht viel gemein hat, sondern vielmehr auf dasjenige folgt, was er an anderer Stelle als Umwandlung des Christentums in Kapitalismus „zur Reformationszeit“ beschreibt. Er befasst sich mit Brechts epischem und gestischem Theater, analysiert das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und arbeitet für das frühe experimentelle Radio der Weimarer Republik.
Im Seminar sollen anhand einer genauen, an der Wörtlichkeit interessierten Lektüre die ästhetischen und politischen Begriffe Benjamins und ihre historische Verortung erarbeitet und für zeitgenössische Theateranalyen und -praktiken fruchtbar gemacht werden. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf jene Texte gelegt, die sich explizit dem Theater, dem Radio und dem Film widmen – sie werden jedoch ergänzt durch Texte, die für eine grundsätzliches Verständnis des Denkens Walter Benjamins unentbehrlich sind.
Das Seminar ist ein Lektüreseminar: Wir werden kurze, aber dichte und oft auch komplizierte Ausschnitte aus Benjamins Texten in Ruhe gemeinsam lesen und besprechen.
- Kursleiter/in: Marina Büns
- Kursleiter/in: Jörn Etzold