• Wir alle sind Laienwissenschaftler/-innen lächelnd


       In diesem Abschnitt lernen Sie, wie unsere Haltung, Einstellungen und Erwartungen sowie Merkmale unserer Umwelt unser Denken und Handeln beeinflussen können, ohne dass wir etwas davon mitbekommen. Auch Merkmale unserer Umwelt spielen eine Rolle.


      Wir Menschen sind neugierig und versuchen, uns anhand selbst gebildeter Regeln und Muster die Welt zu erklären. Dadurch können wir uns besser orientieren und wissen beispielsweise, was wir von anderen Menschen zu halten haben, in welchen Straßen Gefahren auf uns lauern oder welches Essen genießbar ist. Oft haben wir genug Zeit, um alle Optionen gegeneinander abzuwägen, manchmal erachten wir es jedoch gar nicht für notwendig, alle Möglichkeiten zu kennen (dies spart uns schließlich eine Menge Zeit). 

      Im Alltag gelangen wir auch oft in Situationen, in denen wir uns blitzschnell entscheiden müssen und es uns gar nicht leisten können, nachzudenken. So müssen wir zum Beispiel nachts an einer Kreuzung entscheiden, ob uns jemand gefährlich werden könnte.

      Je „berechenbarer“ die Welt für uns ist, umso besser und sicherer fühlen wir uns. So versuchen wir unter anderem, die Komplexität unserer Umwelt zu verringern, um einen besseren Überblick zu bewahren. Dies erleichtert das Sortieren und Einordnen der vielfältigen Informationen, die wir tagtäglich verarbeiten müssen. Wir benutzen viele Strategien, die uns dabei helfen, die Welt „berechenbarer“ zu machen und uns schnell zurechtzufinden.


      Wie wir Informationen aufnehmen und uns verhalten wird von unseren Erwartungen an und unserem Wissen über die Welt beeinflusst. Wir denken in sogenannten „Schemata“. Wenn wir Erlebtes verarbeiten, können wir uns das als einen großen Schrank vorstellen. Auf seinen allbekannten „Schubladen“ stehen Begriffe wie „Gebäude“, „Hausmeister“ oder auch „witzige Situationen“. Wir versuchen, Erlebtes anhand typischer Merkmale für diese Schubladen zu identifizieren und passend einzuordnen. Dies tun wir solange, bis widersprüchliche Informationen vorliegen, die wir nicht ignorieren können.

      Wenn wir nun beispielsweise eine Garage sehen, aktiviert dies unsere Schublade „Gebäude“ und wir nehmen an, dass diese Garage Wände und Dächer hat sowie abschließbar ist, dass wir dort Gegenstände trocken aufbewahren können. Diese Einordnungen geschehen also anhand grober Merkmale, die wir beobachten, und müssen nicht immer stimmen (wenn die Garage z. B. ein Loch im Dach hat).

      Wir gehen jedoch nicht nur davon aus, dass Gegenstände bestimmte Eigenschaften besitzen („lässt sich abschließen“, „hält trocken“), sondern wir tun dies vor allem auch bei Menschen. Wir gruppieren also Personen anhand verschiedener Merkmale (z. B. Geschlecht, Alter oder Beruf) und schreiben diesen Gruppen anschließend vermeintlich charakteristische Eigenschaften, Fähigkeiten oder Motive zu. Dann verallgemeinern wir und gehen davon aus, dass alle Mitglieder dieser Gruppe sehr ähnlich in Bezug darauf sind. Diese „Stereotype“ hingegen behalten wir auch oft bei, wenn sie sich als unzutreffend herausstellen. Dabei sind Stereotype nicht zwangsläufig negativ.

      Beispiel: „In Großfamilien wird viel Wert auf ein gemeinsames Abendessen gelegt.“


      Wenn wir nun eine Person zum ersten Mal sehen, versuchen wir, sie in eine dieser Gruppen einzuordnen
      . Hierbei ordnen wir sie oft derjenigen Gruppe zu, deren typischen Vertreter sie am ähnlichsten scheint.

      Dies könnte zum Beispiel so aussehen: Eine Person hat lange Dreadlocks und trägt weite Hosen. Automatisch ordnen wir sie unserer Gruppe „Hippies“ zu (denn wenn wir an „Hippies“ denken, denken wir unter anderem ebenfalls an Dreadlocks und weite Hosen). Wir meinen zu wissen, dass Hippies viel Zeit haben und gerne Gemüse züchten. Also vermuten wir, dass diese Person es auch tut.

       

       
        Zum Nachdenken: Welche Stereotype gibt es über…
        - Franzosen/ Französinnen?
        - Menschen, die oft ins Fitnessstudio gehen?
        - Menschen, die in einem sozialen Brennpunkt wohnen?
        - Eltern, die kein Deutsch sprechen?
        - Kinder, die oft den Unterricht stören?
        - Kinder, die lieber allein spielen, als mit anderen Kindern?

      Denken Sie nun an eine Person aus Ihrem Bekanntenkreis, auf die zwar eins der obigen Merkmale zutrifft, die jedoch ganz andere Eigenschaften besitzt, als man es annehmen würde. Kennen Sie beispielsweise jemanden, der zwar regelmäßig ins Fitnessstudio geht, aber ganz andere Eigenschaften besitzt als der/die „typische Fitnessstudiogänger/-in“?

      Stereotype werden auch durch Extreme beeinflusst. Wenn also beispielsweise ein Kind einer bestimmten Nationalität besonders auffälliges Verhalten zeigt, werden wir wahrscheinlich vermuten, dass andere Kinder dieser Nationalität ähnliches Verhalten aufweisen. Wir neigen außerdem dazu, unsere Umwelt zu bewerten sowie andere Menschen in „gut“ und „schlecht“ einzuordnen.


      Auf unserer Informationssuche interpretieren wir auch das Verhalten unserer Mitmenschen und versuchen, Gründe dafür zu finden. Verhalten können wir auf zwei Arten interpretieren: Wir können entweder annehmen, dass die Situation dafür verantwortlich ist, oder die (Persönlichkeits-) Eigenschaften der Person.

      Beispiel: Ich habe mich um einen Job beworben, diesen jedoch nach dem Vorstellungsgespräch nicht erhalten.
      1. Bin ich daran schuld? Habe ich nicht genügend Fähigkeiten? Bin ich zu schüchtern? (Eigenschaften der Person)
      2. Gab es jemanden, der besser war? Hatte der/ die Interviewer/-in einen schlechten Tag und fand mich deswegen unsympathisch? (Situationseigenschaften)




      Wie unser Denken verzerrt und beeinflusst wird…

      Oft suchen wir (unbewusst) nach Informationen, die unsere Erwartungen bestätigen, und vermeiden solche, die ihnen widersprechen. Dieses hat gewaltige Ausmaße: Wir gestalten uns unser Umfeld nämlich immer wieder passend zu unseren Erwartungen, sodass es nahezu unmöglich wird, eine andere Meinung anzunehmen.

      Beispiel: Wenn wir der Meinung sind, dass ein Kind oft die Gruppe stört, werden wir wahrscheinlich eher mit unseren Kollegen/-innen darüber reden, was wir unternehmen können, sowie jedes Mal genau darauf achten, ob und wann dieses Kind sich unangemessen verhält. Wir werden wahrscheinlich nicht erwarten, dass dieses Kind etwas gut macht oder ruhig und konzentriert arbeitet. Außerdem werden wir nicht mit seinen Eltern darüber reden, was für einen tollen Ausflug sie vergangenen Sonntag unternommen haben, sondern das problematische Verhalten wird im Mittelpunkt stehen. Wenn wir an das Kind denken, denken wir wahrscheinlich darüber nach, wie wir dieses Verhalten vermeiden können (nicht etwa, wie das Kind letzte Woche einen wunderschönen Stern gebastelt hat). Fortan konzentrieren wir uns also immer mehr auf das störende Verhalten, unsere Meinung wird gefestigt.


       
        Zum Nachdenken:
        Fallen Ihnen noch weitere Beispiele ein?




      Auf unserer Informationssuche suchen wir vor Allem nach stabilen und überdauernden Merkmalen wie beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften oder Fähigkeiten von Personen. Auch das hilft uns, den „Überblick zu bewahren“.  


      Außerdem nutzen wir vor allem Informationen, die leicht verfügbar sind, um Entscheidungen zu treffen oder etwas zu bewerten. Im Folgenden sind einige Beispiele:

      1. Wir erwarten oft Ähnliches, wenn der Kontext übereinstimmt (Wenn etwa ein Kind oft zur Mittagszeit quengelt, werden wir zur Mittagszeit erwarten, dass es gleich erneut quengeln wird).
      2. Wie wir gerade gelaunt sind, beeinflusst oft unser Urteil (Wenn wir zum Beispiel hungrig oder wütend sind).
      3. Wir erinnern uns leichter an kürzlich aufgetretene Erlebnisse.




       
        Zum Nachdenken:
        Wie könnte ein Streit mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin unmittelbar vor der Arbeit Ihr Verhalten und Ihre Wahrnehmung der Kinder beeinflussen
        (z. B. wenn Sie sehen, wie ein Kind einem anderen ein Spielzeug wegnimmt)?

      Wahrscheinlich sorgt der Streit dafür, dass wir neutrales Verhalten eher als aggressives oder unhöfliches Verhalten wahrnehmen und dass uns trotziges Verhalten eher auffällt. Es könnte passieren, dass wir das Kind als aggressiver einschätzen, als wir es sonst getan hätten. Außerdem könnte es uns so vorkommen, dass das Kind öfter anderen Kindern Spielzeug wegnimmt (obwohl es sich das Spielzeug vielleicht nur zurücknimmt, weil das andere Kind es ihm weggenommen hat).



      Welche der beiden Kreise in der Mitte ist größer? Wir nehmen Menschen, Gegenstände oder Situationen im Vergleich zu anderen wahr. Die Größe des Kontrastes entscheidet, wie wir beispielsweise ein Verhalten bewerten. Dabei fallen uns auch eher Extreme auf, da diese herausstechen. Die beiden Kreise in der Grafik sind übrigens gleich groß, werden jedoch durch den Kontext anders wahrgenommen.



      Beispiel: Ein Raum fühlt sich viel wärmer an, wenn man gerade von draußen kommt.

      Ein aufgewecktes Kind beispielsweise kann neben einem etwas älteren Kind schnell „hyperaktiv“ oder überdreht wirken. Besonders in der Altersgruppe, in der sich die Kinder der Brückenprojekte befinden, machen nur ein paar Monate einen enormen Unterschied, was geistige Fähigkeit und Denkvermögen, aber auch Motorik und Selbstregulation angeht. Wenn wir ein Kind im „falschen Kontext“ wahrnehmen, könnten wir also schnell zu falschen Schlüssen kommen.

      Dazu ist unser Alltag oft von defizitärem Denken bestimmt. Das heißt, dass wir eher auf Probleme und Sachverhalte achten, die von der Norm abweichen, als dass wir etwas wertschätzen, das „nach Plan“ verläuft. Wenn beispielsweise ein generell sehr zappeliges Kind einen Stuhl umwirft, sind wir wahrscheinlich empört darüber. Jedoch sollten wir auch zur Kenntnis nehmen, dass es die letzten paar Tage nichts umgeworfen hat, obwohl es normalerweise Probleme hat, sein Verhalten zu regulieren.


      Wie wir (unbewusst) Einfluss auf die Kinder nehmen…



      Stereotype dienen also als Hinweise und lassen uns anhand (oft äußerer) Merkmale ein bestimmtes Verhalten der Person erwarten, was die Kommunikation mit uns unbekannten Personen erheblich erleichtert. Sie sind also nahezu unvermeidbar und auch nützlich. Probleme entstehen jedoch, weil Stereotype sich oft hartnäckig halten, selbst wenn sie unzutreffend sind. Dann behindern sie uns dabei, korrekte Einschätzungen zu treffen. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass unsere Stereotype sich immer wieder bestätigen, indem wir eher auf Informationen achten, die unseren Annahmen entsprechen. Außerdem finden wir diese Informationen oft wichtiger als solche, die nicht mit dem Stereotyp übereinstimmen, und erinnern uns leichter an sie. Wenn eine Person nicht unserem Stereotyp entspricht, ändern wir außerdem oft nicht unsere Meinung über diese Gruppe, sondern sind davon überzeugt, dass diese und ihr ähnliche Personen „Ausnahmen“ sind und bilden Untergruppen (z. B. wenn jemand in der Wirtschaft arbeitet, aber keinen Anzug trägt). Wenn Sie mehr über vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung erfahren möchten, sehen Sie sich auch das Angebot unseres Verbundpartners, der Arbeitsgruppe Inklusive Pädagogik von Prof. Dr. Timm Albers an der Universität Paderborn, an.

       
        Zum Nachdenken: Stellen Sie sich einen kleinen Jungen mit Migrationshintergrund vor.

        Wie sieht er aus? 
        In welchem Stadtteil wohnt er? 
        Teilt er sich sein Zimmer mit seinen Geschwistern? 
        Womit spielt er gerne? 
        Welche Nationalität haben seine Freunde? 
        Als was arbeiten seine Eltern?


      → Wie bereits erwähnt gehen wir also davon aus, dass eine Person, die wir einer Gruppe (hier „Kinder mit Migrationshintergrund“) zuordnen, automatisch auch die Merkmale des/ der typischen Vertreters/-in besitzt. Allein deshalb konnten Sie sich gerade so einen prototypischen „Jungen mit Migrationshintergrund“ vorstellen (woher sollten Sie auch wissen, welche Nationalität er hat oder als was seine Eltern arbeiten? Hier greifen wir auf „prototypes“ Wissen zurück). So können wir besser einschätzen, was wir von unserem Gegenüber zu erwarten haben. Es ist also vollkommen normal, dass wir so unsere Entscheidungen vereinfachen. Durch genaues Überlegen und Beobachten können wir prüfen, ob unsere Vorstellungen angemessen sind, oder ob wir beispielsweise ein Kind oder dessen Eltern zu schnell „abstempeln“. Dies kann problematisch sein, da wir damit unbewusst Einfluss auf andere Personen nehmen können.

      Wir haben also bestimmte Erwartungen daran, wie eine andere Person ist. Diese Erwartungen wirken sich jedoch auf unser Verhalten dieser Person gegenüber aus, und das wirkt sich wiederum darauf aus, wie die Person sich verhalten wird: Und zwar meist konform unserer Erwartungen. Diese sogenannte „Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung“ bringt uns also ganz schnell in einen Teufelskreis.

      In einem Experiment[1] wurde der Effekt von Lehrererwartungen auf das Verhalten ihrer Schüler untersucht. Die Intelligenzquotienten der Schüler wurden zu Beginn eines neuen Schuljahres gemessen und den Lehrern mitgeteilt, dass anhand der Ergebnisse die schulische Leistung vorhergesagt werden könnte. 20% der Kinder sollten laut dieses Testes innerhalb des nächsten Jahres gute Schüler werden. Tatsächlich wurden die entsprechenden Schüler jedoch per Los bestimmt. Nach 9 Monaten wurde der Intelligenztest wiederholt. Die vermeintlich „intelligenten“ Schüler hatten tatsächlich bessere Ergebnisse als diese, von denen kein Lernfortschritt erwartet worden war. Dies deutet darauf hin, dass die Lehrer sich gemäß ihren Erwartungen verhielten, was wiederum Einfluss auf den Lernfortschritt der Kinder nahm.

      Ein Mädchen sitzt an einem Schultisch und schreibt in ihr Heft.


      Treten wir also einem Kind mit der Einstellung gegenüber, dass es sowieso etwas nicht kann, ist es fast vorprogrammiert, dass es diesen Eindruck auch bestätigt! 








       
        Zum Nachdenken:

        Fällt Ihnen eine Situation ein, in der Sie schon einmal davon ausgegangen sind,
        dass ein Kind sich negativ verhalten wird? 
        Wie haben Sie reagiert? 
        Wie hat das Kind sich verhalten? 
        Wie würden Sie sich mit Ihrem jetzigen Wissen anders verhalten?


      Obwohl wir nun wissen, dass es viele solcher Verzerrungen unseres Denkens und unserer Wahrnehmung gibt, ist keiner von uns immun gegen sie. Stattdessen prägen sie unser Denken und Verhalten tiefgreifend, da sie uns helfen, uns in unserer Umwelt zurechtfinden. Wenn wir uns unserer Verzerrungen jedoch bewusst werden, können wir sie mit der Zeit in immer mehr Situationen erkennen und lernen durch sorgfältiges Nachdenken neutraler zu urteilen.

       


      Zum Weiterlesen:
      Bierhoff, H.-W. & Frey, D. (2011). Sozialpsychologie – Individuum und soziale Welt. Göttingen: Hogrefe
      Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1968). Pygmalion in the classroom: Teacher expectation and student intellectual development. New York: Holt, Rinehart & Winston.


      [1] Rosenthal und Jacobsen (1968)