SelbstLernAngebot: Frühkindliche Bildung für Kinder mit Fluchthintergrund
Abschnittsübersicht
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Wie kann ich Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit Fluchterfahrungen besser verstehen?
In diesem Baustein haben Sie die Möglichkeit mehr über psychisch auffällige und unauffällige Verhaltensweisen bei Kindern mit Fluchterfahrung zu lernen. Dazu werden unterschiedliche Typen von Verhaltensauffälligkeiten beschrieben und Vorschläge zum Umgang mit diesen gegeben. Der Baustein wird durch Kommentare der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen Karen Krause und Sören Friedrich ergänzt. Frau Krause ist Leiterin und Herr Friedrich Geschäftsführer der Kinder- und Jugendlichenambulanz des Zentrums für Psychotherapie Bochum.
Eine wissenschaftliche Studie (Buchmüller, Lembcke, Bihler, Kumsta & Leyendecker, 2018) zu Verhaltensauffälligkeiten von Kinden mit Fluchterfahrungen in Brückenprojekten zeigt, dass pädagogische Kräfte häufiger externalisierende Auffälligkeiten (u.a. Aggression, Konzentrationsprobleme) wahrnehmen. Aus Elternsicht dominieren hingegen überwiegend internalisierende Auffälligkeiten (u.a. Traurigkeit, Angst) bei den Kindern. Zudem nehmen die Eltern mehr Verhaltensauffälligkeiten wahr als die pädagogischen Kräfte.
Psychische Traumatisierung
Als psychische (auch seelische oder mentale) Traumatisierung wird eine Beeinträchtigung bezeichnet, die durch eine stark negative biographische Erfahrung hervorgerufen wurde. Im Kontext von Flucht zählen dazu insbesondere Kriegserlebnisse (u.a. Miterleben von Kriegshandlungen mit Verletzungs- oder Todesfolge), Entführungen, Terroranschläge, Folter, oder Verhaftungen vor, aber auch während der Flucht. Derartige Erfahrungen können (müssen aber nicht zwangsläufig) bei Menschen extremen Stress auslösen und Gefühle der Hilflosigkeit, oder des Entsetzens erzeugen. Menschen sind besonders dann gefährdet, wenn die Erlebnisse ihre Fähigkeiten zur psychischen Verarbeitung und Bewältigung übersteigen. Wenn diese erhöhte Stressspannung über längere Zeit bestehen bleibt und es keine Möglichkeit gibt, die Erlebnisse adäquat zu verarbeiten, kann es zur Ausbildung von teils anhaltenden psychischen Symptomen kommen (siehe Posttraumatische Belastungsstörung). Die Erlebnisse von Krieg und Folter in den Herkunftsländern sowie die oft monatelange dramatische Flucht nach Europa belasten auch Kinder und Jugendliche in hohem Maße.
Besonders bei Kindern kann eine psychische Traumatisierung auslöst werden, wenn ihre Eltern oder nahestehende Verwandte involviert sind. Ihr positives Bild vom Menschen und von der Gesellschaft wird zerstört. Zudem erschwert die sequentielle Traumatisierung die Regeneration vom Trauma. Kinder mit Fluchterfahrungen können ebenfalls mehreren traumatischen Situationen ausgesetzt sein, die zeitlich vor, während und nach der Flucht im Asylland angesiedelt sind. So erleben sie häufig traumatische Erfahrungen vor und während der Flucht, eine hohe Belastung in der Gegenwart (nach der Flucht) und auch die Gedanken an die Zukunft sind angstbehaftet.
Grundsätzlich können, aber müssen Kinder mit Fluchterfahrungen nicht unbedingt Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Dabei kann angenommen werden, dass bestimmte Risikofaktoren zu einem spezifischen Muster von Verhaltensauffälligkeit führen. Dementsprechend wäre es möglich, dass Kinder mit Fluchterfahrungen, die Kriegserfahrungen, Mangelerfahrungen oder Migration ausgesetzt waren, ein diesen Risikofaktoren entsprechendes spezifisches Symptommuster ausbilden. Dieses Muster wird von Angst, sozialem Rückzug und Aufmerksamkeitsproblemen dominiert. Die pädagogischen Kräfte in den befragten Brückenprojekten schätzen, dass ca. 25% der Kinder in den Brückenprojekten eine traumatische Erfahrung (Gewalterfahrungen, Verlust eines Elternteils, Todesangst usw.) und 31% eine Mangelerfahrung (Hunger, emotionale Vernachlässigung, Schutzlosigkeit usw.) gemacht haben. Die Eltern berichten im Vergleich dazu zu 11% von Gefangenschaft vor der Flucht, und 20% während der Flucht, 9% Verletzungen vor, und 20% während der Flucht, und 34% Deprivation/Hunger/Entbehrung vor und 40% während der Flucht. 10% der Kinder zeigen altersbezogene Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder ihr Verhalten wird durch die drei Symptombereiche Angst, Sozialer Rückzug und Aufmerksamkeitsprobleme dominiert. Je nach Studie zeigen zudem 26-37%, also etwa ein Drittel, eine PTBS im Kleinkindalter.
Wenn ein Kind sich auffällig verhält, muss dies nicht aufgrund einer zurückliegenden „Traumatisierung“ geschehen, sondern kann auf verschiedene (auch situationsspezifische) Einflüsse, oder ggf. auch eine Entwicklungsverzögerung zurückgeführt werden. Außerdem ist das Spektrum an Reaktionen von Kindern und Jugendlichen auf traumatische Ereignisse breiter als bei Erwachsenen. Wie Kinder auf traumatische Ereignisse reagieren, hängt grundsätzlich von ihrem Entwicklungsstand ab. Manche Kinder zeigen sich auch unerwartet fröhlich, unbekümmert und angepasst. Andere wiederum zeigen Verhaltensauffälligkeiten, die auf eine psychische Störung hinweisen. Sie ziehen sich zurück, sind unruhig, weisen Konzentrationsprobleme auf oder sind aggressiv. Außerdem können Symptome einer PTBS einzeln oder in Kombination auftreten.
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei Kindern unter 6 Jahren (nach DSM-5)
Diagnostiziert wird eine PTBS, wenn das betroffene Kind...
(A) ein- oder mehrmals einer Todesangst auslösenden Bedrohung ausgesetzt war oder Zeuge einer solchen Bedrohung bei einer primären Bezugsperson war.
(B) von wiederkehrenden eindringlichen Erinnerungen (Intrusionen, Flashbacks und/oder Alpträumen) geplagt wird.
(C) alles, was an das traumatische Ereignis erinnert, vermeidet oder zu vermeiden versucht und sich anhaltende Veränderungen in Affekt und Kognitionen ( Gedächtnisprobleme, Angst, Schuld, Interessenlosigkeit usw. ) manifestieren.
(D) eine auffällige Erregbarkeit (Schlafstörungen, Reizbarkeit, Wutausbrüche, Konzentrationsmangel, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit) zeigt.
Bei Kindern werden traumatisierende Ereignisse oft in Spielen nachgestellt. Sind die Verhaltensauffälligkeiten innerhalb eines halben Jahres nach dem traumatischen Ereignis aufgetreten und dauern mindestens einen Monat an, sprechen wir von einer PTBS.
Besonderheit bei Kindern unter 6 Jahren: Erinnerungen, Dissoziationen usw. können in Nachspielen von traumaähnlichen Situationen ausgedrückt werden und Albträume können ohne erinnerbaren Inhalt auftreten. Eltern berichten von einer großen Bandbreite an emotionalen und verhaltensbezogenen Veränderungen. Durch die mangelnde Fähigkeit der Kinder ihre Gedanken auszudrücken und Emotionen zu benennen, führen negative Veränderungen in der Stimmung und den Kognitionen vornehmlich zu einer negativen Veränderung der Emotionen. Vermeidendes Verhalten kann sich auf eingeschränktes Spiel- oder erkundendes Verhalten bei Kleinkindern und verringerte Teilnahme bei neuen Spielen im Schulalter beziehen.
Sobald sich ein Kind in einer traumatischen Situation befindet, schaltet das Gehirn in ein Notfallprogramm um. Durch den hohen Stress während der traumatischen Situation wird das Stresshormon Cortisol in ungewöhnlich hohem Ausmaß ausgeschüttet und führt dazu, dass die Informationsverarbeitung gestört wird. Die traumatischen Ereignisse werden so nicht adäquat in das autobiographische Gedächtnis eingespeichert. Es entstehen vielmehr fragmentierte Erinnerungsfetzen, die nicht in chronologischer Reihenfolge gespeichert und abgerufen werden können. Das führt dazu, dass Gerüche, Geräusche oder Bilder, die denen im traumatischen Ereignis ähnlich sind, die Erinnerungen an das Ereignis aktivieren können. Das Kind kann infolgedessen nicht mit den traumatischen Ereignissen abschließen und wird quasi bis in die Gegenwart „verfolgt“. Durch die Besonderheiten dieses Traumagedächtnisses entstehen die PTBS-typischen Auffälligkeiten wie Intrusionen, Flashbacks, Dissoziationen oder Übererregung.
Wir haben in diesem Zusammenhang auch Frau Krause und Herrn Friedrich vom ZPT gefragt, wieso eine PTBS eigentlich als normale Reaktion auf eine Belastung aufgefasst werden kann.
Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen Trauma, Traumatisierung und Posttraumatischer Belastungsstörung. Nicht jeder Mensch, der traumatische Erfahrungen gemacht hat, entwickelt Symptome einer PTBS. Ob nach der Erfahrung eines traumatischen Erlebnisses psychische Störungen entwickelt werden, hängt von dem Kind, seinen psychosozialen Schutzfaktoren und seinen Umweltbedingungen ab. Deswegen sollten den Kindern keine Opferrollen zugeschrieben werden, denn trotz schlimmer Erfahrungen können sich diese unproblematisch entwickeln und sogar stärker und widerstandsfähiger aus diesen Erlebnissen hervorgehen. Wichtige Determinanten dafür sind, wie das Ereignis persönlich wahrgenommen wurde und in welchen Kontext es eingebettet wird, sowie innerliche Ressourcen wie psychische Belastbarkeit, Intelligenz oder soziale Kontakte.
Frau Krause vom ZPT Bochum weist im Interview außerdem darauf hin, dass es wichtig ist, die Begrifflichkeiten im Rahmen von Trauma gut voneinander zu trennen - nicht jedes Kind entwickelt eine PTBS. Es ist zudem Vorsicht geboten, Kinder nach ihrem „Krankheitsbild“ zu kategorisieren, denn nicht alle Verhaltensauffälligkeiten deuten auf eine Traumatisierung oder eine PTBS hin. Zudem ist es oft nicht eindeutig, auf welches Symptom eine Verhaltensauffälligkeit zurückzuführen ist.
Demnach zeigt sich, dass eine Differenzierung und Kategorisierung von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten nicht leichtfertig geschehen sollte. Trotzdem lohnt es sich, auf Verhaltensauffälligkeiten zu achten, und ggf. Hilfemaßnahmen einzuleiten, da frühzeitige Intervention am effektivsten und nachhaltigsten wirken. Jedoch müssen und können Sie alleine in vielen Fällen dem Kind nicht genau das bieten, was es zur Linderung seiner Symptomatik benötigt. Wenn Sie merken, dass Sie mit einem Kind nicht angemessen arbeiten können oder dessen psychische Symptome nur schlimmer werden (und Sie ggf. auch eine PTBS vermuten), vermitteln Sie den Eltern sofort, dass das Kind ärztliche bzw. psychotherapeutische Hilfe benötigt. Unterstützen Sie eventuell bei der Vermittlung, denn nur Ärzte bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeuten haben die Ressourcen und die Mittel, um eine PTBS bzw. andere psychische Auffälligkeiten professionell behandeln zu können. Dazu sollten die Eltern mit dem Kind ein sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ) oder psychosoziale Beratungsstellen aufsuchen, damit eine eindeutige Diagnose gestellt und die passende Behandlung eingeleitet werden kann. Eine unterstützende Netzwerkliste finden sie im Baustein Vernetzungen.
Diesbezüglich haben wir Frau Kraus gefragt, ab wann genau ein Kind zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapueten geschickt werden sollte.
Externalisierende und internalisierende Verhaltensauffälligkeiten
Kindliche Verhaltensauffälligkeit wird in "externalisierend" und "internalisierend" unterteilt. Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten sind von außen beobachtbar. Dazu gehören zum Beispiel Unruhe oder aggressives Verhalten. Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten hingegen können von außen meist nicht beobachtet werden. Diese sind Auffälligkeiten, die innerlich bearbeitet werden, wie zum Beispiel Selbstzweifel, Depressionen oder Ängste. Kinder verhalten sich dann sehr ruhig, wirken traurig oder in sich versunken. Externalisierendes Verhalten wird häufiger den Jungen zugeordnet, wohingegen Mädchen häufiger internalisierende Auffälligkeit zeigen. Jedoch können beide Arten bei beiden Geschlechtern auftreten.
Externalisierende und internalisierende Verhaltensweisen können sowohl im Rahmen einer PTBS als auch isoliert auftreten. Zwar kommt es zu Überschneidungen der Verhaltensauffälligkeiten, jedoch ist von einem voreiligen Schluss auf ein Störungsbild abzusehen. Kinder können aus verschiedenen Gründen auffällige Verhaltensweisen entwickeln, die nicht mit Fluchterfahrungen zusammenhängen. Ein Kind kann sich beispielsweise aggressiv verhalten, da es ein sehr aufbrausendes Temperament und nur wenig Selbstregulation besitzt. Es muss nicht notwendigerweise gewaltvolle Erfahrungen gemacht hat. Zudem sind die jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften der Kinder und ggf. auch Erziehungsmethoden der Eltern zu beachten.
Nicht jedes auffällige Verhalten von Kindern mit Fluchterfahrungen muss auf eine psychische Störung hindeuten. Aufgrund kultureller Unterschiede im Familiensystem oder auch fluchtbedingter Erfahrungen zeigen Kinder mit Fluchterfahrungen häufig Verhaltensweisen, die als eine Anpassungsreaktion an ihre neue Umgebung gedeutet werden können. Diese sind nicht weiter schlimm und sollten nach einer gewissen Zeit abnehmen. Sind Ihnen die folgenden Verhaltensweisen könnten schonmal aufgefallen?
· Auffälliger Gehorsam gegenüber Erwachsenen: dies liegt möglicherweise an ausgeprägten Hierarchien in Familien mit Fluchterfahrungen; Eltern besitzen unbestreitbare Autorität und auch von den pädagogischen Kräften werden Anordnungen und feste Regeln erwartet
· Desinteresse/Ratlosigkeit bei der Beschäftigung mit Spielsachen: in einigen Herkunftsländern gibt es häufig andere (oder auch keine vergleichbaren) Spielsachen, sodass die Kinder zunächst überfordert sind; sie explorieren, wie die Spielsachen zu verwenden sind
· Horten von Spielsachen oder Essen: kann auf Mangelerfahrungen während der Flucht oder in der Flüchtlingsunterkunft zurüchgehen
· Spielen oft für sich allein oder wollen nicht gestört werden: haben in beengten Unterkünften oder sehr kleinen Wohnungen oft keine Ruhe, um für sich spielen zu können
· Lassen sich eher von älteren Kindern helfen oder spielen nur mit Geschwistern: da in einigen Herkunftsländern die Geschwister an der Erziehung jüngerer Kinder mitwirken, haben Kinder mit Fluchterfahrungen oft eine enge Bindung zu diesen bzw. sind es gewohnt, Anweisungen älterer Kinder zu erhalten
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