• In diesem Abschnitt erfahren Sie, wie Kinder mit allen Sinnen die Welt entdecken, was diesen Vorgang beeinflusst und wie Sie Situationen so gestalten können, dass die Kinder bestmöglich entdecken und sich entfalten können


       

      Wie die eigene Kultur und Erfahrung die Wahrnehmung prägen


      Jeder Mensch nimmt seine eigene Version der „Realität“ wahr, wobei die eigenen Einstellungen, Gewohnheiten und Werte die Wahrnehmung mitbestimmen.  Auch Kinder nehmen Informationen durch ihre eigenen kulturellen und erfahrungsbasierten Filter auf.  Dies hat auch mit der Aufmerksamkeit zu tun: Wenn man auf etwas achtet, fällt es einem öfter auf (Sind Sie schon einmal aus dem Urlaub wiedergekommen und haben danach „andauernd von diesem Land gelesen, weil irgendwie gerade alle auch dorthin gefahren sind?“) Die persönliche Wichtigkeit des Gegenstandes oder der Situation nimmt zu und somit verschiebt sich die Aufmerksamkeit. Genauso haben in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Werte und Verhaltensnormen Einfluss auf das Erleben und Verhalten (und somit auch auf das Lernen) der Kinder. 

      So vermitteln einige Kulturen auch Verhaltensweisen und Ansichten, die von unseren Erwartungen abweichen. Das könnte zum Beispiel sein, dass die Kinder die Durchführung einer bestimmten Handlung erst beobachten, bevor sie sie selbst nachmachen oder dass sie nur das machen, was ihnen die pädagogische Kraft ausdrücklich sagt (wenn man etwas selbst "dazu denkt", könnte man Fehler machen). Diese kulturellen Unterschiede könnten die Kinder verunsichern, da das Verhalten der pädagogischen Kraft mit einer anderen "kulturellen Brille" betrachtet wird.

      Wenn Sie sich darauf einstellen und versuchen, Erfahrungen, Wissen und Fertigkeiten im Rahmen dieser Filter zu übermitteln, werden sie für die Kinder persönlich bedeutsamer. Dann interessieren sie sich mehr dafür und behalten Informationen einfacher sowie tiefgreifender. Achten Sie jedoch darauf, nicht voreilig Rückschlüsse zu ziehen, nur, weil das Kind aus einem bestimmten Land kommt. 


       Aufgabe: Angenommen, einige der Kinder in Ihrem Brückenprojekt probieren neue Dinge lieber sofort aus, während andere Kinder sich lieber vormachen lassen, was zu tun ist, bevor sie selbst aktiv werden. Wie könnten Sie eine Gruppenaktivität gestalten, sodass alle Kinder sich darin entfalten und daraus neue Erkenntnisse mitnehmen können?
      Haben Sie noch andere Situationen des Entdeckens und Erforschens erlebt, in denen die Kinder kulturbedingt unterschiedlich reagieren?



      Situationen des Entdeckens – Auf die Neugier der Kinder bauen


      Bauen Sie auf die Neugier der Kinder und fördern Sie freie Spiel- und Entdecksituationen. Dann stellen sich die Kinder nicht auf das ein, was von ihnen erwartet wird, sondern entdecken eigenmotiviert und ausprobierend: Sie suchen sich den Gegenstand, mit dem sie sich befassen möchten, selbst aus. Durch die persönliche Bedeutung behalten sie das Neue viel besser und sie haben die Möglichkeit, aus Fehlern neue Erkenntnisse zu gewinnen.




      Oft ist der Ausgangspunkt etwas Bekanntes. Hier bemerkt das Kind dann, dass etwas anders ist als sonst (z. B. hat es gelernt, immer bei einer grünen Ampel die Straße zu überqueren. Was ist jedoch, wenn es keine Ampel gibt?). Das erweckt das Interesse des Kindes: Es fängt an, sich zu wundern („Wie kann es sein, dass es eine Straße ohne Ampeln gibt? Wie weiß man denn dann, wer zuerst gehen oder fahren darf?“).

       
       Aufgabe: Haben Sie in Ihrem Brückenprojekt schon einmal solche Momente erlebt? Worum ging es und wie reagierten die Kinder?

      Meist entwickelt das Kind in solchen Situationen Ideen („das könnte so und so gehen“) und stützt sich dabei auf sein bisheriges Wissen. Wenn das Kind einen Widerspruch entdeckt, sucht es nun Erklärungen dafür und denkt über die Folgen nach. Es entsteht ein Kreislauf aus neuen Fragen: „Eigentlich regelt immer jemand, wer stehen bleiben muss. Das ist hier bestimmt auch so. Aber… hier ist ja niemand anderes und auch keine Ampel, vielleicht müssen der Autofahrer und der, der die Straße überqueren will, das selbst ausmachen? Oder gibt es eine Regel, die immer sagt, wer zuerst gehen darf?“. Oft wechseln Kinder dann auch sprunghaft das Thema. Aus solchen assoziativen Ketten nehmen die Kinder sehr viel mit.

       



      Passende Momente erkennen und nutzen


      Innerhalb eines Gesprächs oder einer Situation kommt es zu Momenten, in denen das Kind besonderes Interesse an einem Gegenstand zeigt. Dann ist das Kind besonders bereit, sich das jeweilige Wissen anzueignen. Oft ergeben sich diese Momente unerwartet, beispielsweise bei der scheinbar nebensächlichen Frage, warum Bäume grüne Blätter haben. Nun können Sie dem Kind das neue Wissen anbieten oder zusammen nachforschen. 

      Es gibt auch viele Möglichkeiten, selbst passende Momente zu kreieren. In folgendem Video (auf Englisch) finden Sie Anregungen, wie Sie im Alltag passende Momente finden können, in denen die Kinder sich spielerisch neue Fertigkeiten aneignen können. So können Sie zum Beispiel auf dem Weg zu der Turnhalle mit den Kindern Schritte zählen oder Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst spielen, während sie gemeinsam auf die Eltern warten. So können Sie nicht nur den Wortschatz, sondern auch die Entwicklung analytischer Fertigkeiten unterstützen.



      Wichtig ist, dass die Ziele der Kinder nicht mit den von den Erwachsenen vorgegebenen übereinstimmen müssen. Versuchen Sie, sich auf die persönlichen Ziele der Kinder einzulassen, können Sie das Lernen selbst zum Gegenstand machen. Versuchen Sie dafür, die Fragen der Kinder aufzugreifen und ernst zu nehmen. Oft nehmen wir uns für Fragen, die nicht in unsere Vorstellung passen, nicht genug Zeit.


       Wenn Sie dennoch ein bestimmtes Wissen vermitteln möchten, können Sie das Interesse der Kinder wecken, indem Sie zum Beispiel Fotos davon auf Augenhöhe der Kinder anbringen.

       Beispiel: Wenn Sie mit den Kindern über Tiere reden möchten (z. B. der Löwe lebt in Afrika und isst Fleisch), können Sie Fotos von Elefanten, Pferden, Löwen, und so weiter aufhängen. Die Kinder werden früher oder später von selbst darüber sprechen wollen, da die Fotos ihre Neugier wecken.




      Sonstige Einflüsse auf das Entdecken


      Emotionen: Je negativer der Gegenstand bewertet wird, d. h. je mehr unangenehme Gefühle dauerhaft damit in Verbindung gebracht werden, umso schlechter wird das Kind ihn behalten, weil es sich nicht damit auseinandersetzen möchte. Kinder mit Fluchthintergrund bewerten das Sprechen der Deutschen Sprache manchmal als negativ, weil sie es noch nicht so gut können. Es ist jedoch sehr wichtig für sie, ständig in Übung zu bleiben. Hier sind schnelle, konkrete Erfolge sehr wichtig, um die Motivation zu erhalten. Loben Sie die Kinder deshalb auch schon für kleine, realistische Erfolge (z. B. lieber ein neues Wort pro Tag erinnern anstatt 5 pro Woche) und zeigen Sie dem Kind, wie toll diese Fortschritte sind. Durch die vielen kleinen Erfolge wird der Erwerb (der Sprache) positiver bewertet sowie die Motivation der Kinder erhöht.


       Nach einem Erfolg („Ich kann dieses Wort schon richtig aussprechen!“) freuen sich die Kinder, was die Bereitschaft („Das macht ja eigentlich sogar Spaß.“) sowie die Erfolgszuversicht („Dann schaffe ich es bestimmt auch, die anderen Wörter auszusprechen.“) erhöht. So entsteht eine Aufwärtsspirale aus Erfolgen.


      Kontext und Vorwissen: Man vermutet, dass vor allem jüngere Kinder Alltagsbeispiele nicht verstehen können, wenn sie den Gegenstand nicht durch Experimentieren erproben. Bei geringem Vorwissen könnte es Kindern des Weiteren schwerfallen, das Gemeinsame zwischen äußerlich unähnlichen Situationen zu erkennen (z. B. „der Eiswürfel schmilzt im Getränk“ und „der Schneemann schmilzt im Schnee“). Dass die eine Situation im Sommer, die andere im Winter ist sowie dass es sich einmal um Eis und einmal um Schnee handelt, erschwert es den Kindern, einen Zusammenhang herzustellen. Wenn das Verbinden beider Situationen nun noch mit einem Versuch unterstrichen wird, in welchem man z. B. Eis bzw. Schnee schmelzen lässt, ist es wahrscheinlicher, dass die Kinder sich alltagsnah anwendbares Wissen aneignen. Generell scheinen Kinder Dinge besser zu verstehen, wenn sie sowohl in Teilschritten gezeigt als auch in den Kontext des großen Ganzen gesetzt werden.

       Das heißt auch, dass Kinder besser Dinge begreifen, wenn sie den gesamten Vorgang begleiten können anstatt nur Teilschritte durchzuführen. 


      Ein Beispiel hierfür wäre, ein Baumhaus mit den Kindern zu bauen und sie von der Planung über das Sammeln der Bretter bis hin zum Verzieren des Baumhauses komplett mit einzubeziehen.



      Aufmerksamkeitsspanne: Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von 5- bis 7-jährigen beträgt lediglich 15 Minuten. - Lenken Sie die Aufmerksamkeit gezielt und ungeteilt auf einen Gegenstand. Dazu sollte die Umgebung ablenkungsfrei sein. Schaffen Sie Rückzugsräume, in denen die Kinder in Ruhe dem Entdecken nachgehen können.


       Kinder können sich besser konzentrieren, wenn sie sich vor und/oder nach der jeweiligen Situation körperlich betätigen können.


      Kinder erinnern Dinge leichter, wenn der Kontext und somit die Umgebung sie dazu motivieren. Das kann zum Beispiel durch eine gemütliche Atmosphäre beim Geschichtenlesen erreicht werden. Einige Ideen, wie Sie einen Raum gestalten und Atmosphäre schaffen können, finden Sie hier.



      Wenn Sie mehr über den Mehrsprachigkeit erfahren möchten, sehen Sie sich auch das Angebot unseres Verbundpartners, der Arbeitsgruppe Inklusive Pädagogik von Prof. Dr. Timm Albers an der Universität Paderborn, an.




    • Exkurs: Wie werden Informationen verarbeitet?


      Die Aufnahme und Weiterleitung von Informationen aus der Umwelt geschieht zunächst einmal über die Sinnesorgane, von welchen die Informationen über Nervenzellen durch elektrische Impulse in das Gehirn übertragen werden. Diese Informationen werden jedoch nur ganz kurz aufrechterhalten, wenn ihnen nicht besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Kind kann im Durchschnitt maximal fünf bis sechs Informationseinheiten auf einmal innerlich wiederholen. Alle weiteren Informationen verschwinden einfach. Da die Sinneskanäle unterschiedlich viele Informationen gleichzeitig aufnehmen können, nehmen wir zum Beispiel mehr Gesehenes als Gehörter oder Gefühltes wahr. Wenn etwas auf verschiedenen Wegen (z. B. durch das Ohr und das Auge) wahrgenommen wird, wird es in der Regel besser behalten.

      Im Gehirn speichern mehrere Milliarden Nervenzellen die Informationen in großen Netzwerken ab, wozu sie ebenfalls elektrische Impulse benutzen. Das Gehirn lernt jedoch sehr langsam und muss immer wieder durch Übung und Wiederholung unterstützt werden.


        Aufgabe: Wie können Sie Erfahrungen oder Umgebungen gestalten, sodass die Kinder durch verschiedene Sinneskanäle lernen?  

                         Was fällt den Kindern in Ihrem Brückenprojekt noch schwer? Wie können Sie dieses im Alltag wiederholen?





      Exkurs:  Entdecken durch Nachahmung und die Spiegelnervenzellen


      Situationen des Entdeckens werden auch durch zwischenmenschliche Erfahrungen und Emotionen mitbestimmt. Dies kann anhand sogenannter Spiegelnervenzellen erklärt werden. Das sind Nervenzellen, die bei der Beobachtung einer Handlung genauso aktiv werden wie bei der Durchführung derselben Handlung. So kann es dazu kommen, dass man z. B. beobachtetes Verhalten intuitiv nachahmt („Gähnen ist ansteckend“), von anderen empfundene Gefühle mitfühlt (wenn man z. B. bei einer emotionalen Stelle eines Filmes weinen muss) oder dass man eine ähnliche Körperhaltung einnimmt wie eine Person, die man sympathisch findet.


        Aufgabe: Erinnern Sie sich an andere Situationen, in denen ein Kind jemanden nachgeahmt hat? Was für Situationen waren das? Was glauben Sie, hat das Kind dadurch gelernt?  




      Durch Nachahmung erlernen die Kinder also neue Verhaltensweisen. Sie und die anderen Kinder im Brückenprojekt sind dabei ihre Verhaltensmodelle. Außerdem verfügen Kinder noch nicht über einen so großen Wortschatz wie Erwachsene und lernen daher besonders viel durch Kontext und Beobachtung. Bei Kindern mit Fluchthintergrund nimmt Kontext- und Beobachtungslernen eine noch viel wichtigere Rolle ein, da sie oftmals kein oder aber nur einige Wörter Deutsch sprechen. Ihre Stärke liegt wiederum darin, den geringeren Wortschatz durch Beobachtungslernen auszugleichen.