Öffentlichkeit ist ein gleichsam intuitives wie auch schwierig greifbares Konzept. Die Öffentlichkeit spielt in modernen politischen Systemen eine entscheidende Rolle: Sie kann eine eigene Meinung haben (die öffentliche Meinung), kann von politischen Akteuren beeinflusst werden oder diese selbst beeinflussen, kann zentrale Akteurin im Staatssystem sein oder eine Gefahr für die herrschende Elite darstellen. Doch wie sah es damit in der Vormoderne, konkret: im Mittelalter aus? Der Soziologe Jürgen Habermas stellte in seiner 1962 erschienenen Habilitation die These auf, dass sich Öffentlichkeit im Sinne eines eigenen, von der privaten Sphäre abzugrenzenden gesellschaftlichen Bereiches für das Mittelalter nicht feststellen ließe, sondern diese Epoche vielmehr durch eine repräsentative Öffentlichkeit geprägt gewesen sei. Hiergegen hat die Mediävistik seit den 1990er Jahren deutliche Kritik und zahlreiche Argumente ins Feld geführt. Doch weiterhin bleibt die Frage bestehen, wie Öffentlichkeit im Mittelalter konkret definiert werden kann, wie sie funktionierte und wie genau sie sich von dem, was wir heute als Öffentlichkeit kennen, unterschied.

In der Übung konzentrieren wir uns auf die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien zu Öffentlichkeit, zur politischen Kommunikation und zur politischen Kultur im Mittelalter. Dies geschieht zunächst anhand zentraler Forschungsliteratur. Die Anwendung der Theorien auf mittelalterliche Quellen und Fragestellungen verschiedener Teilepochen wird am Beispiel konkreter Themenfelder (z.B. Öffentlichkeit und Recht, Öffentlichkeit und Stadt) erprobt und diskutiert. Im Fokus steht die Frage, welche Funktion Öffentlichkeit im Mittelalter erfüllte, wer (k)ein Teil dieser Öffentlichkeit war und wie moderne Historiker*innen diese öffentliche Dimension in mittelalterlichen Quellen untersuchen können. Wenngleich in der Übung der Nutzen für die Mediävistik und die Anwendung auf mittelalterliche Kontexte im Vordergrund stehen, lassen sich die behandelten Theorien auch für andere historische Epochen fruchtbar machen bzw. stammen aus der Forschung zu diesen.

Semester: WiSe 2025/26