
Vielleicht ist Arbeit in der kapitalistischen Gegenwart die letzte Bastion der Utopie. Sich zu Wohlstand zu arbeiten, Sinn in Arbeit zu finden, sich mit dem eigenen Beruf zu identifizieren und zu einem Gemeinwohl oder der eigenen Selbstverwirklichung beizutragen – in diesen Versprechen wird Arbeit selbst dann, wenn es nicht um Erwerbsarbeit geht, zum Zentrum eines Lebens und Maßstab für Erfolg. Doch die andere Seite von Arbeit ist nicht Faulheit, auch wenn es so scheint, als seien moderne westliche Gesellschaft immer noch damit beschäftigt diese vermeintliche Todsünde zu vermeiden. Die ‚dunkle‘ Seite der Arbeit ist nicht Arbeitslosigkeit, sondern mehr Arbeit. Der Takt, den insbesondere industrialisierte Arbeit vorgibt, die Hierarchien, die mit Arbeitsverhältnissen einhergehen, die (Ab-)Wertungen von vermeintlicher Arbeitslosigkeit und die Angst vor der Arbeitsunfähigkeit, sind Teil von Konstellationen in denen Arbeit zum ebenso diffusen wie überdeterminierten Faktor einer dystopischen Zwangslage wird. Ob in der Fabrik oder Untertage, ob im Großraumbüro oder „frei“-beruflich unverortet, Arbeitsplätze, -zeiten und -produkte formen Biografien und Gesellschaften, gerade weil sie sich in einem prekären Verhältnis zwischen utopischer und dystopischer Wertung bewegen. So kann die Fabrik, die im 19. Jahrhundert Freiheit von der Feldarbeit (und Bindung an das Land) versprach, zur menschenfressenden Maschine mutieren, während Landarbeit zum utopischen Gegenmodell von Kontrolle und Zwang im Büro wird. Solche Kippfiguren und Perspektivverschiebungen finden sich bereits in der Antike, verschärfen sich aber besonders dann, wenn sich die Vorstellung davon, was als Arbeit gilt und was sie wem wert ist, verändert.
Arbeit ist aber nie nur Gegenstand von Literatur und Denken, sondern bedingt und formt, was das sein kann. Diese Verhältnisse prägen und formen ob bspw. Kunst als Produkt von Muße oder Arbeit verstanden wird, ob (körperliche) Arbeit literaturfähig ist oder aus „hoher“ Kunst ausgeschlossen wird und wie soziologische, ökonomische und politische Modelle von Arbeit literarische und kulturelle Produktion und Rezeption prägen (z.B. in Form marxistischer Literaturtheorie oder Theorien literarischer Arbeit). Nicht zuletzt stellen sie die Frage, ob kulturelle Artefakte – Romane, Filme, Musik, Werbung – Arbeitsverhältnisse stabilisieren, indem sie bspw. für Ablenkung sorgen, oder bestimmte Mythen und Narrative verstärken („vom Tellerwäscher zum Millionär“) oder ob sie sich subversiv oder protestierend gegenüber Arbeitsmythen positionieren (z.B. im Punk oder Darstellungen von Ausbeutung). Anstelle lineare Geschichten und Erzählmuster zu reproduzieren (z.B. Modernisierung, Fortschritt, Beschleunigung etc.), konzentriert sich diese Vorlesung auf Momente der Störung, in denen Arbeitsverhältnisse herausgefordert werden, um die herum sich Genres, Schreibweisen und Poetiken formieren. Im Fokus stehen dabei fiktionale und nicht-fiktionale Artefakte, theoretische Überlegungen und historische Momente, die Arbeit im dystopischen Modus zum Thema machen und von dort aus fragen, wie gesellschaftliche und gemeinschaftliche Kooperation gelingen kann oder wann sie scheitern muss. Eingeladene Gäste werden die komparatistische Perspektive der Vorlesung durch Vorträge bereichern und interdisziplinär erweitern.
Die Struktur der Sitzungen wird ein Gleichgewicht zwischen Vortrag und Interaktion anstreben, das wissenschaftliche Vermittlungs- und Austauschformen trainiert. Teilnahmenachweise erwerben Sie in dieser Veranstaltung durch Protokolle und vorbereitete Fragen. Mehr dazu in der ersten Sitzung – es ist unbedingt vonnöten, dass Sie an der ersten Sitzung teilnehmen!
- Kursleiter/in: Solvejg Elisabeth Nitzke