Gemeinwohl ist ein schillernder Begriff, der von ganz unterschiedlichen politischen Lagern beansprucht wird. Dazu zählen westliche Demokratien genauso wie linke oder rechte Diktaturen. Dabei unterscheiden sich die Konzepte in der Regel bei der Frage, wer das Gemeinwohl definiert: die Bürger*innen in ihrer Gesamtheit oder eine kleine politische oder technokratische Elite.

Doch wie steht es um künstlerische Projekte seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Wie sieht das von ihnen angestrebte Wohl, wenn nicht für Alle, dann für bestimmte Adressat*innen aus? Und wer sind diese überhaupt? Anhand dieser exemplarischen Fragen widmen wir uns im Laufe des Seminars künstlerischen Arbeiten, in denen sich die Erscheinungsformen des Gemeinwohls mannigfaltig zeigen. Der thailändische Künstler Rirkrit Tiravanija veranstaltet nicht nur seit 1989 seine berühmten, auf das temporäre Miteinander zielenden Kochperformances. 1998 initiierte er auch ein großes und dauerhaftes Projekt nachhaltiger Landwirtschaft, Architektur und des sozialen Miteinanders in Thailand, das unter dem Titel The Land Foundation seit bald 25 Jahren existiert und als Plattform für zahlreiche Künstler*Innen, landwirtschaftliche und soziale Experimente dient. Geradezu ausufernd ist das vielleicht bekannteste Projekt eines Künstlers der relationalen Ästhetik, Dan Petermans 61st Street genannte Arbeit in einem sozialen Brennpunkt südlich der Inner City von Chicago. Der Begriff „Arbeit“ ist hier übrigens in einem umfassenden Sinn gemeint, der sowohl klassische Erwerbsarbeit als auch künstlerische Arbeit und so etwas wie Sozialarbeit umfasst, ohne dass man die jeweiligen Felder scharf voneinander trennen könnte. Alison Knowles verbindet seit 1962 mit Make a Saladdie gemeinschaftliche Zubereitung und den gemeinsamen Verzehr des titelgebenden basalen Gemeinwohls [MH1] [PPW2] (Eike Bohlken) – Salat – mit und in der Öffentlichkeit. Der dabei im Vordergrund stehende Aspekt des Gemeinsamen findet sich auch in den Arbeiten von Christine und Irene Hohenbüchler im Sinne ihrer angestrebten multiplen Autorschaft wieder. Künstlerische Arbeit und ihr Ergebnis werden dabei vergemeinschaftet, wodurch allen Partizipierenden Anerkennung zuteilwird. Es zeigt sich, dass Gemeinwohl nicht zwingend etwas von vornherein Gegebenes (substanzielles Gemeinwohl) ist, sondern auch aus dem Zusammenwirken verschiedener Akteur*innen und Instanzen hervorgehen kann (prozeduralistisches Gemeinwohl). Letzteres nimmt Mierle Laderman Ukeles mit Touch Sanitation (1978–80) am womöglich prominentesten in den Blick: Durch Händeschütteln und Gespräche verleiht ihre Arbeit nicht bloß jener der Angestellten des New York Sanitation Department Anerkennung. Darüber hinaus klärt sie über die notwendigen Abläufe auf, um ein lebenswertes Umfeld instand zu halten, sprich Gemeinwohl zu gewährleisten.

Gemeinwohl, Anerkennung und Gemeinschaftsbildung sind also eng miteinander verflochten. Doch wo erreicht Gemeinwohl seine Grenzen? Wann wird seine Exklusivität für einen bestimmten Adressat*innenkreis problematisch und warum? Eine Auswahl einschlägiger Literatur zum Thema dient nicht nur der Beantwortung dieser Fragen, sondern navigiert uns auch im Laufe des Seminars durch die vielfältigen Erscheinungsformen und Praktiken des Gemeinwohls.


Semester: WiSe 2025/26