Ein klassisches Archiv besteht aus Schränken, Schubladen, Schachteln. In ihnen lagern Briefe, Rechnungen, Verträge. Seltener auch Fotografien, Mikrofilme und Schallplatten. Ein Etikett verweist auf die Herkunft und die Art dieser Dokumente, die Aufschluss über eine geschlossene Vereinbarung, ein vergangenes Ereignis, ein gelebtes Leben geben sollen. Doch welche Zeitdokumente und Nachlässe werden archiviert und bewahrt; und welche nicht? Welche Geschichten fehlen? Was lebt nach und auf welche Weise? 

Das Denken mit und über das Archiv hat spätestens seit den 1990er-Jahren Konjunktur, dabei haben machtkritische, postkoloniale und queer-feministischen Denker*innen entscheidende Impulse gesetzt. Bereits Michel Foucault betrachtete das Archiv nicht nur als Institution, sondern auch als Vorgang der ständigen Transformation und Konstruktion von Wissen. In seinen Texten »Archäologie des Wissens« (1969) oder »Das Leben der infamen Menschen« (1977) legt Foucault die immanente Gewaltstruktur von Archiven offen. Saidiya Hartman spürt die Leerstellen in kolonialen Archiven auf, die über verborgenen Selektionsmechanismen Aufschluss geben. Sie denkt Archive als “a living, moving thing, the sources of which are changing as we speak” und entwirft mit der “critical fabulation” eine konkrete Denk- und Schreibweise, um die koloniale Gewalt der Archive nicht länger zu reproduzieren. 

In dem theoretisch-praktischem Doppel-Seminar (4 SWS) beschäftigen wir uns mit Theorien zum Archiv sowie mit queer-feministischen künstlerischen Archiv-Praktiken und Performances. Beispielsweise setzt sich die polnische Künstlerin Anna Baumgart in der Arbeit »Świeze Wiśnie« (2010) mit Erfahrungen von Frauen, die in Konzentrationslagern zu Prostitution gezwungen wurden, auseinander. Weil in den Archiven Zeugnisse fehlen, entwickelte sie ein fiktives Filmprojekt, in dem eine Schauspielerin als Stellvertreterin der Frauen versucht die Erfahrung zu reenacten und in der Rekonstruktion wiederholt scheitert.

Im praktischen Teil planen wir die künstlerische Kooperation mit dem Archiv-Projekt »Emanzenexpress« in Zusammenarbeit mit den queer-feministischen lokalen Archiv »Madonna - Archiv und Dokumentationszentrum für Sexarbeit« und/oder »Lieselle - queer*feministisches Archiv RUB«. Hierbei sollen eigene künstlerische Zugriffe auf das Archivmaterial erprobt werden. Es wird ein obligatorisches gemeinsames Arbeitswochenende am 5. und 6. Juli stattfinden. Weitere Exkursionen, z.B. zum Universitätsarchiv der RUB, ergänzen unsere künstlerisch-wissenschaftliche Recherche. 

Semester: SoSe 2025