Heiße Zeiten - Kalte Praxen

»Im Augenblicken sozialer Desorganisation, in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt, werden Verhaltenslehren gebraucht, die Eigenes und Fremdes, Innen und Außen unterscheiden helfen. Sie ermöglichen, die Vertrauenszonen von Gebieten des Mißtrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen.«

Mit diesen Sätzen, die sich angesichts des Rechtsrucks in Europa wie eine Gegenwartsanalyse lesen, beginnt Helmuth Lethen 1994 sein Buch Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen«. Seine Analyse bezieht sich auf die Weimarer Republik. In den Nachkriegsjahren des Ersten Weltkriegs werden distanzierte Verhaltenstypen der »kalten Persona« oder des »Radar-Typs« zum Sinnbild der gesellschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung. Verhaltenslehren, wie sie Helmuth Plessners in seinen anthropologischen Schriften prägte, rieten den Menschen, ›die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch‹ anzunehmen und zur Distanz zu adeln«. Nach Plessner sollte der moderne Mensch zum Trennungskünstler umerzogen werden: Qua Trennung von affektiven Bindungen, gewinne der Mensch in krisenhaften Zeiten Mobilität und Handlungsspielraum zurück – so die These.

In dem Lektüre-Seminar lesen wir uns in die historische Debatte zu kalten Lebenspraxen (Lethen, Plessner, u.a.) und künstlerischen Praxen (Worringer, Brecht, u.a.) und diskutieren, inwieweit Diese gegenwärtige gesellschaftliche und künstlerische Entwicklungen auf andere Weise lesbar machen. Lässt sich zum Beispiel eine Linie zu Henrike Kohpeiß Begriff der »Bürgerlichen Kälte« ziehen, mit dem sie die affektive Abschottung der westlichen Welt gegenüber den Konsequenzen der kolonialen Ausbeutung beschreibt? Lässt sich eine Line ziehen zu zeitgenössischen künstlerische Praktiken, die die Entfremdung menschlicher Beziehungen zelebrieren (The Agency: Nurturæl, 2022; Alexander Schubert/Decoder Ensemble: ANIMA™, 2022)? Weitergedacht: Können wir kalte Praxen in Krisenzeiten erfinden/erdenken, die nicht auf eine Festung der Identität und Abschottung zielen, sondern sich in der Desorientierung und Kälte einnisten, um von hieraus zu widerständig zu operieren?

 

Beginn der 1. Sitzung: 17.10.2024,

 

Anforderungen für:

-TN: Lesekarte, Essay + Expertise 

-LN: Hausarbeit oder mündliche Prüfung

Semester: WiSe 2024/25