
Ein Eindruck grundsĂ€tzlicher Krisenhaftigkeit durchwirkt alle Bereiche des Sozialen, betrifft ebenso geopolitische Krisen wie den spĂŒrbaren Klimawandel. Die fĂŒr lange Zeit in demokratischen Gesellschaften wirksamen Versprechen der sozialen Sicherheit und des Friedens scheinen aufgekĂŒndigt. Die BrĂŒchigkeit von Bildungs- und Sozialsicherungssystemen, die Verunsicherung durch Dynamiken der Digitalisierung, die Kriegsgefahr und eine damit einhergehende militĂ€rische AufrĂŒstung sowie die Entwertung und Diskriminierung von als anders Wahrgenommenen in öffentlichen Diskursen und sozialen Netzwerken fĂŒhren zu Entsolidarisierung und aggressiver Polarisierung.
In der Berliner ErklĂ€rung in Verteidigung der Migrationsgesellschaft hat die interdisziplinĂ€re Forscher*innengruppe Transforming Solidarities Ende letzten Jahres einen Angriff auf die Migrationsgesellschaft diagnostiziert. Das Papier verweist auf die Instrumentalisierung von Migration als Grund fĂŒr die Krisen, die wir derzeit durchleben.
Ursache dafĂŒr ist der Anstieg illiberaler und nationalistischer KrĂ€fte in Europa und weltweit, der sich auch in Deutschland in der Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses weit nach rechts und dem zeitgleichen Erstarken rechtsextremer Positionen auf parteipolitischer Ebene zeigt. In der Folge werden politische Instrumente wie die Internierung von FlĂŒchtenden und Migrant*innen innerhalb der EU und die VerschĂ€rfung von Abschiebepraktiken etabliert und gleichzeitig selektive neue Anwerbeabkommen beschlossen. Gleichzeitig erfahren wir seit den Correctiv-EnthĂŒllungen zu Beginn des Jahres 2024 eine massenhafte bĂŒrgerliche Mobilisierung gegen die Faschisierung der Gesellschaft. Dennoch wirken sich rechtsextreme Argumente gegen Migration weiterhin deutlich auf Regierungsreden und -handeln aus.
Die Berliner ErklĂ€rung wurde vier Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel veröffentlicht, der selbst und dessen Gegenangriff in ein ohnehin schon aufgeheiztes Diskursklima stieĂen und vielfĂ€ltige rassistische und antisemitische Ressentiments anfachten. Seitdem erleben wir in den zersplitterten bundesdeutschen Ăffentlichkeiten eine zusĂ€tzliche Zuspitzung unterschiedlicher, oft mit Migration in Zusammenhang gebrachter Debatten. Der öffentliche Diskurs ist geprĂ€gt durch MiĂtrauen und Empörung, das SchlieĂen von GesprĂ€chsrĂ€umen und die Delegitimierung anderer Positionen. Der Widerstand gegen Rassismus und derjenige gegen Antisemitismus werden gegeneinander ausgespielt, ein Mechanismus, der rechten KrĂ€ften, die gegen eine demokratische Gesellschaft arbeiten, diskursiv weiter Vorschub leistet.
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Die Erosion demokratischer Instanzen und Mechanismen erweist sich besonders als eine Herausforderung fĂŒr die Theoriebildung in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Als Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen arbeiten wir immer schon an durch MobilitĂ€t und Austausch geprĂ€gten Materialien und in beweglichen und oft liminalen Kontexten.
Unsere Arbeit mit und der Austausch ĂŒber Literatur, KĂŒnste und Medien geht mit der EinĂŒbung einer anderen Wahrnehmung von Fremdheit einher. DiversitĂ€t wird erkundet, beschrieben â und als gleichwertig ausgehalten. Geisteswissenschaft kann MultiperspektivitĂ€t, Machtkritik und eine konstruktive Streitkultur vermitteln, die die Position des anderen ernst nimmt, unterschiedliche Erfahrungen aushĂ€lt. Unsere Forschung und Lehre mĂŒssen sich den so unterschiedlichen Herausforderungen und Angriffen auf die demokratische Migrationsgesellschaft stellen. Der politisch motivierten Polarisierung gilt es Genauigkeit entgegenzusetzen. PhĂ€nomene und Probleme der aktuellen gesellschaftlichen Situation mĂŒssen analysiert werden, anstatt sie lediglich zu emotionalisieren.
Mit der Ringvorlesung wollen wir Forschung zu Demokratie, Vielfalt und Kultur der postmigrantischen Gesellschaft Raum geben und diskutieren, wie die Wissenschaft relevant fĂŒr eine solidarische, offene Gesellschaft sein kann, in der MobilitĂ€t und Vielfalt nicht skandalisiert, sondern als immer schon gewesen, prĂ€gend und bereichernd verstanden werden. Hierzu laden wir Kolleg*nnen aus der FakultĂ€t fĂŒr Philologie, der RUB, der UA Ruhr und darĂŒber hinaus ein.
- Kursleiter/in: Stephanie Heimgartner
- Kursleiter/in: Hildegard Beate Hoffmann