„Dieses Büchlein darf wohl ‚der Edelstein‘ heißen: Denn es birgt in sich Beispielgeschichten über kluges Handeln und bringt weise Einsichten hervor – so wie auch der Dornbusch die Rose hervorbringt.“ Mit diesen Worten erklärt und rechtfertigt Ulrich Boner den Werktitel und den Erkenntniswert seines um 1350 gedichteten Edelstein. Boners Werk war dabei eine literarische Neuheit: Es war die erste Sammlung von 100 Fabeln in hochdeutscher Sprache, angelegt als geschlossene ‚Gesamtausgabe‘ und geleitet von dem Ziel, den Lesern/innen im Umgang mit den Erzählungen und deren Auslegung Wege zu eigener Erkenntnis zu vermitteln. Eben dies geschieht in kurzen fiktionalen Erzähltexten, die als äsopische Fabeln bezeichnet werden und als solche bis heute bekannt sind: Programmatisch für Boner ist die Geschichte von dem Hahn, der einen kostbaren Edelstein findet, dessen Wert er jedoch nicht zu erkennen vermag; und politisch zu deuten ist etwa die Fabel von Wolf und Lamm, in welcher der Wolf mutwillig nach Gründen sucht, um seine Aggression gegen das Lamm zu legitimieren. Nicht zufällig handeln Boners Fabeln daher auch das Thema gesellschaftlicher Freiheit (vrîheit) ab. Der Edelstein war dabei auch deswegen ein sehr erfolgreiches Werk, weil die Fabeltexte in der handschriftlichen Überlieferung meist mit illustrierenden Bildern präsentiert wurden. Und so war es auch Boners Edelstein, der 1461 als erstes gedrucktes Buch mit Holzschnitten bebildert und nicht zuletzt wegen seiner Text-Bild-Gestaltung seit dem frühen 18. Jahrhundert von prominenten Autoren wie C. F. Gellert und G. E. Lessing literarisch neu entdeckt wurde. Im Kurs werden wir zunächst die Fabel als literarische Gattung in Grundlagen und Geschichte anhand von Text-Bild-Beispielen kennenlernen. Boners Edelstein wird dann ins Zentrum rücken, indem wir fragen, wie Text und Bild die Fabel-Präsentation bestimmen. Dabei wird es inhaltlich darum gehen, welches Wissen die Fabeln über das Verhältnis von Tier und Mensch vermitteln und inwiefern sie politisch sind. Berührt ist damit schließlich auch die fach- und schuldidaktische Dimension der Fabel. Zur Einführung: Cordula Kropik, mê denne wort ein bîschaft tuot! Ulrich Boners Edelstein als mittelalterliche Fabelsammlung. In: Der Basler Edelstein. Hrsg. von Christina Domanski, Charlotte Gutscher-Schmid, Cordula Kropik. Basel 2021, S. 13-24 [als PDF online verfügbar!]; Almut Suerbaum: Fabel. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 2002 (Universal-Bibliothek 2002), S. 89-110. Text-Bild-Materialien und Forschungsliteratur werden den Teilnehmer*innen in Moodle zur Verfügung gestellt. TN: Teilnahme und Mitarbeit an einem Referat. LN: mündliche Prüfung oder schriftliche Hausarbeit. Sprechstunden: Montag 12-13.15 Uhr.
Semester: WT 2023/24