Als Zeug:in gilt eine Person, die als Zuschauer:in oder als Zuhörer:in bei einem Vorfall, einem Geschehen zugegen war, darüber Bescheid weiss und möglichst wahrheitsgemäße Aussagen machen soll. Zeug:innen erzählen nicht einfach, was geschehen ist; sie verbürgen sich für die «Wahrheit» des Dargestellten, vor Gericht etwa durch den Eid, die «Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit». Um ein Zeugnis ablegen zu können brauchen Zeug:innen ein Gegenüber, die selbst nicht Zeug:innen sind und als Zuhörer:innen (oder Zuschauer:innen) das Gehörte (oder Gesehene) als eine Spur von etwas deuten können. Denn erst das Interesse eines potentiellen Auditoriums oder einer Jury, eine Zeugin «zu vernehmen», lässt die Person Zeug:in werden. Jedoch haben nach dieser Konzeption Zeug:innen, die nicht ‚sprechfähig‘ sind bzw. nicht mehr existieren, keine Möglichkeit, ins kulturelle Gedächtnis aufgenommen zu werden. Im Zusammenhang mit dem Holocaust ist oft von einer «Krise der Zeugenschaft» die Rede, insofern Überlebende nur von der Unmöglichkeit des Bezeugens zeugen könnten. Auch in Bezug auf die Themen Gewalt, Wunden und Ruinen Diese Krise hat eine Vielzahl künstlerischer Auseinandersetzungen mit Zeugenschaft hervorgebracht.

Im Seminar werden wir verschiedene Konzepte der Zeugenschaft in Theater und Performance diskutieren. Im Fokus stehen dabei folgende Fragen: Wie gestaltet sich der eigentliche Akt des Bezeugens? Wie sind Momente von Performanz und Inszenierung darin verwoben? Und welche situativen und politischen Gegebenheiten wirken darauf ein? Inwiefern ist das Zeugnisablegen ein performativer Akt, in dessen Folge sich nicht nur eine bestimmte Sichtweise auf die Vergangenheit eröffnet, sondern dieser auch aktiv auf die Adressat:innen im Hier und Jetzt einwirkt? Welche Rolle spielt die mediale Vermittlung? Welche Bedingungen stören oder verhindern Zeugenschaft? Inwiefern sind oder werden Künstler*innen, Schauspier:innen oder Zuschauer:innen selbst zu Zeug:innen? Inwiefern sind auch materielle Objekte oder Pflanzen Zeug:innen? Und wie wird Zeugenschaft ästhetisch in Theater und Performance verhandelt?


Semester: WiSe 2023/24