Die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine bedient sich häufig der Theatermetaphorik – es ist vom „Kriegsschauplatz“, vom „Kriegstheater“, vom „Krieg als Bühne“ der militärischen Operationen die Rede, und das nicht nur in den westlichen Medien. Die Theatermetaphorik wird auch in der Desinformation verwendet, indem die Opfer des Krieges in Russland als „Krisendarsteller“ bezeichnet werden und der Unabhängigkeitskampf als „Inszenierung“ der Ukraine bzw. Westeuropas definiert wird. Durch den massiven Einsatz digitaler Medien kommt es einerseits zu einer Beschleunigung der Dokumentationsproduktion, andererseits zu einer fortschreitenden Fälschung von Dokumenten, so dass die mediale Vermittlung des Geschehenen nicht immer als Evidenz für Kriegsverbrechen angesehen werden kann. Die komplexe Medialisierung des russischen Angriffs auf die Ukraine soll Ausgangspunkt für eine Reflexion über das Verhältnis von Krieg, Theater und Dokumentation aus theoretisch-ästhetischer und historischer Perspektive sein.
Das erste Dokumentardrama, Erwin Piscators Trotz alledem! Historische Revue (1925), entstand als ästhetische Reaktion auf das Trauma des Ersten Weltkriegs und setzte stark auf die visuelle Erinnerung an Gewalt und Tod. Neben Textdokumenten (Reden, Artikeln und Zeitungsausschnitten, Proklamationen, politischen Flugblättern) sowie historischen Figuren und Szenen verwendete Piscator in dieser Inszenierung authentisches Bildmaterial: Fotos und Filmaufnahmen aus dem Reichsarchiv. Piscators dokumentarisches Theater kann somit als eine Art ästhetisches Metanarrativ über die visuelle Erzählung des Krieges sowie über die affektive Kraft der Bilder vom Krieg betrachtet werden.
Im Seminar werden wir versuchen, unsere „natürliche“ visuelle Kompetenz zur Analyse von Kriegshandlungen und ihrer Rahmung in theatralen Inszenierungen praxeologisch anzuwenden. Anhand verschiedener historischer (Das Politische Theater Erwin Piscators, Kriegsfibel Bertolt Brechts, Hiroshima, mon amour Marguerite Durasʼ, Die tote Klasse Tadeusz Kantors) und zeitgenössischer Theaterbeispiele (Zerbombt Sarah Kanes, The Act of Killing Joshua Oppenheimers, Theatre of War Lola Arias, Das Kongo Tribunal Milo Raus) werden wir sowohl die Rolle der darstellenden Künste in der Dokumentation von Kriegsverbrechen diskutieren als auch die Anwendbarkeit von Theorien des Dokumentarischen (Judith Butler, Georges Didi-Huberman), der Zeugenschaft (Sybille Krämer), des Reenactments (Rebecca Schneider) und der Materialität (Susan Schuppli) in der Aufführungsanalyse befragen.
- Kursleiter/in: Dorota Sajewska