Gewalterfahrungen in vermeindlich „alltäglichen“ Auswüchsen und extremen Formen sind in der globalisierten Welt allgegenwärtig und prägen das menschliche Miteinander überall. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen gerade in modernen, hyperkomplexen (Vertovec) Migrationsgesellschaften in „Verletzungsverhältnissen“ leben und interagieren, „die den oft kaum wahrgenommenen Nährboden für die soziale Praxis bilden“ (Straub). Demnach erscheint es als Aufgabe einer Gesellschaft,  mit den sich zunehmend diversifizierenden Erfahrungen umzugehen, die Mitmenschen in ihr ertragen, erleben und empfinden, in Institutionen wie Politik und Medien, in Kunst und Literatur, vor allem aber in intersubjektiven Begegnungen und Beziehungen, in denen sich Möglichkeiten der Artikulation realisieren und Konsequenzen des Erlebens und Erfahrens von Leid und Gewalt inszenieren, repräsentieren und artikulieren. Dabei geht es u.a. um den Umgang mit Folgen der Gewalt, um Trauer- und Versöhnungsprozesse, um Erinnerung und Anerkennung und um die Wiederherstellung sozialer Zugehörigkeit (Ghaderi).

Dass Artikulation eine Voraussetzung für die Reflexion und Anerkennbarkeit individuellen und kollektiven Leids und dessen Folgen darstellt, erscheint vor diesem Hintergrund unumstritten.

Daraus ergeben sich Fragen für die sozial- und kulturpsychologische Forschung: Welche Räume der Artikulation für Gewalterfahrungen stehen zu Verfügung, welche Möglichkeiten und Hindernisse der Artikulation als einem intersubjektivem Geschehen lassen sich ergründen – und wie sind diese bedingt und ko-konstruiert? Zur Beantwortung dieser Frage sind u.a. die Individuen, ihr (sprachliches) Handeln und ihre Interaktionen in den Blick zu nehmen, denn in sozialen Nahwelten spielt sich die individuelle Artikulation von Gewalterfahrungen zumeist ab. Im Seminar wird über die Auseinandersetzung mit ausgewählten Schlüsselbegriffen wie u.a. „Verletzungsverhältnisse”, „Anerkennung“, „Symbolisierung“ und „intergenerationale Transmission“ aus psychologischer, philosophischer und sozialtheoretischer Perspektive eine Annäherung an das Thema und ein differenzierterer Blick auf diese Problemstellung ermöglicht und erarbeitet.

Semester: ST 2024