Di. 14:00 - 16:00 Uhr, HGA 30

Kritik ist gleichursprünglich mit moderner Kultur und ein grundlegendes Instrument moderner Selbstverständigung. Auf Kunstkritik trifft dies in besonderem Maße zu: Sie thematisiert gleichermaßen die sinnlich-reflexive Begegnung eines Betrachters mit einem Gegenstand und mit sich selbst, als wahrnehmendem und reflektierendem Subjekt, so dass sich im Akt des Kritisierens Subjekt- und Objektkonstituierung aneinander vollziehen. Kritik ist demnach eine Verfahrensweise, die, an Raum und Ort gebunden, situativ mit den jeweiligen gesellschaftlichen, institutionellen und medialen Strukturen verwoben ist. Von dem Kritikbegriff lässt sich daher kaum sprechen, eher schon von einem Operieren und »Denken in Fällen« (Allerkamp/Orozco/Witt 2015). Die sich für die Erschließung des Phänomens andeutende Schwierigkeit einer Vermittlung zwischen historischer und systematischer Erforschung dürfte ein Grund dafür sein, warum Genese, Geschichte und Verfahren der Kunstkritik bislang – zumal aus kunstwissenschaftlicher Perspektive – erst punktuell erforscht sind. Der schon seit längerem schwelenden Rede von einer »Krise« der Kunstkritik fehlt es an einer grundlegenden Analyse der sich aus ganz verschiedenen und vielgestaltigen Praktiken konstituierenden Gattung. Dabei gilt es ebenso, Funktionen, Stile und Wirkweisen zu ermitteln, wie die Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Kritik abzustecken. Der methodische Weg, den die Vorlesung zur Untersuchung des Phänomens Kunstkritik vor- und einschlägt, ist die Fallstudie.
Ausgehend von dieser Prämisse spannt die Vorlesung auf Basis von Fallbeispielen einen Bogen von der Entstehung der Kunstkritik als literarischer Gattung im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Entsprechend ihrer Situiertheit werden die verschiedenen kunstkritischen Praxen und Protagonisten dabei stets in ihrer Bedingtheit zur Sozialgeschichte der Kunst und ihrer Institutionen untersucht und vor dieser Folie für die verschiedenen Arten und Weisen des Sprechens über Kunst sensibilisiert -- für die Literarizität der in Rede stehenden Texte ebenso wie für ihre gesellschaftliche Funktion. Denn gerade die Moderne hindurch war Kunstkritik ein bevorzugter Ort dafür, über und an Kunst individuelle und soziale Gefühlslagen zu seismographieren, Wertfragen -- die kulturellen Gegenständen in Akten des Unterscheidens entzogen oder zugewiesen werden -- zu verhandeln und sich über Weltverhältnisse zu verständigen. Kunstkritik ist »keine ein für alle Mal zu erfassende Methode des Denkens. Vielmehr spielt sich ihre Ausübung auf dem Metaschauplatz eines Denkens ab, das am Gegenstand Nähe und Distanz […] zu problematisieren […] hat« und sich im und zum jeweiligen Heute als Differenz und Fluchtpunkt zu positionieren wagt, „so dass eine finale Positionierung nicht möglich ist und von Kritik auch immer als einer »krisis des Wissens und des Wissbaren […] im Sinne einer Wissenspraxis« gesprochen werden kann.  (Allerkamp / Orozco / Witt 2015).
Folgende Kritikerfiguren werden u.a. exemplarisch im Fokus der Vorlesung stehen: Étienne La Font de Saint-Yenne, Denis Diderot, August Wilhelm Schlegel, Heinrich Heine, Charles Baudelaire, Zacharie Astruc, Théophile Thoré, Julius Meier-Graefe, Carl Einstein, Lu Märten, Will Grohmann, Werner Haftmann, Clement Greenberg, Lucy Lippard, Rosalind Krauss und Lynne Tillman.

Literatur zur Einführung:
Andrea Allerkamp / Pablo Valdivia Orozco / Sophie Witt (Hg.): Einleitung, in: dies.: Gegen/Stand der Kritik, Zürich/Berlin 2015, S. 7– 28.

Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, 1920.

Deepwell, Katy: Art Criticism and the State of Feminist Art Criticism, in: Arts 9/28, 2020.

Drost, Wolfgang: Der Dichter und die Kunst: Kunstkritik in Frankreich. Baudelaire, Gautier und ihre Vorläufer Diderot, Stendhal und Heine, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019.

Fleckner, Uwe: Carl Einstein und sein Jahrhundert: Fragmente einer intellektuellen Biographie, Berlin: Akademie-Verl., 2006.

Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin: Merve-Verl., 1992.

Germer, Stefan / Kohle, Hubertus: »Spontanität und Rekonstruktion: zur Rolle, Organisationsform und Leistung der Kunstkritik im Spannungsfeld von Kunsttheorie und Kunstgeschichte«, in: Kunst und Kunsttheorie 1400– 1900, hg. v. Peter Ganz und Martin Gosebruch, Wiesbaden 1991, S. 287– 311.

Kase, Oliver: Mit Worten sehen lernen: Bildbeschreibung im 18. Jahrhundert,
Petersberg: Imhof, 2010.

Kluge, Dorit: Kritik als Spiegel der Kunst : die Kunstreflexionen des La Font de Saint-Yenne im Kontext der Entstehung der Kunstkritik im 18. Jahrhundert, Weimar: VDG, Verl. und Datenbank für Geisteswiss., 2009.

Latour, Bruno. 2007. Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu den Dingen von Belang. Berlin / Zürich: Diaphanes.

Lüdeking, Karlheinz: Vorwort, in: ders. (Hg.): Greenberg, Clement: Die Essenz der Moderne: ausgewählte Essays und Kritiken [Neuaufl.], Hamburg: Philo Fine Arts, 2009, S. 9-28.

Marchal, Stephanie / Zeising, Andreas / Degner, Andreas: Kunstschriftstellerei: Konturen einer kunstkritischen Praxis, München: edition metzel, 2020.

October Round Table. 2002. Participating: Baker, George; Krauss, Rosalind; Buchloh, Benjamin; Fraser, Andrea; Joselit, David; Meyer, James; Storr, Robert; Foster, Hal; Miller, John; Molesworth. “Round Table: The Present Conditions of Art Criticism.” October 100 (Spring 2002): 200–228.

Sonderegger, Ruth, Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung. Wien: Zaglossus, 2019.

Ruth Sondereggers: Das Undisziplinäre der Kunstkritik, Vortrag im Rahmen der Tagung „Durch die Formate“ am 23./24. November 2007 am mumok Wien, Link: https://www.yumpu.com/de/document/read/749864/ruth-sonderegger-mumok.

Vogt, Margrit: Von Kunstworten und -werten : die Entstehung der deutschen Kunstkritik in Periodika der Aufklärung, Berlin [u.a.]: de Gruyter, 2010.


Hilfskraft: Manischa.Eichwalder@rub.de
Semester: ST 2024