Kurze Prosatexte sinnvoll in Subkategorien einzuteilen, dies fiel immer schwer. Texte, die nicht lang bzw. im Goetheschen Sinne unerhört genug sind, um Novelle getauft zu werden, Texte, deren Kürze und Mangel an sich über längere Lebensphasen entwickelndem Personal sie nicht zum Roman taugen lassen, alle diese Texte können etwas fad als Erzählungen bezeichnet werden. Und Texte, die nicht von Kafka geschrieben wurden, werden ungern als Parabeln klassifiziert, als wäre letztere Gattung ausschließlich von Kafka publiziert worden. Und die Kurzgeschichte? Sie war immer ein Chamäleon, dem jeder Autor seinen ihm eigenen Stempel aufdrückte, wenn er nur ein paar, und seien es noch so wenige, angeblich "typische" Kurzgeschichtenmerkmale in seinen Produktionen unterzubringen vermochte.

Für noch mehr Unordnung in diesem Klassifikationschaos sorgt die Kurzprosa dreier Damen aus Österreich, Frankreich und dem angloamerikanischen Raum: Ilse Aichinger, Nathalie Sarraute und Sylvia Plath. Hier gehen nicht nur obige Kurzprosaformen fließend, so elegant wie auch beizeiten sperrig ineinander über, hier überlappen sich alle literarischen Gattungen: Nicht wenig theaterhafte Szenen sind epiphanisch-suggestiv zu einem Quasiminiroman zusammengebündelt in Sarrautes "Tropismes" (1939), Erzählungen fangen realistisch-mimetisch an und kippen ins Surreale, um zur Realität zurückzukehren bei Ilse Aichinger, Sylvia Plaths lyrisches Talent produziert Gedichte, die erzählend-parabolisch in ihrer Sprachästhetik zu verstörend sind, um sie einfach als wiederbelebte poésie en prose in Baudelairescher Fin-de-Siècle-Tradition einzuordnen.

In der Diskussion exemplarischer Texte der drei Autorinnen werden wir von einer Gemeinsamkeit ausgehen: Das Erzählen in der Moderne, schreibt Ilse Aichinger in ihrem Vorwort zum Erzählband Der Gefesselte, sei immer noch ein Fluss (vgl. Aichinger 1991 (1953): 9), aber kein kohärent-dahinfließender, sondern es handele sich "um reißendere Flüsse […], mit steileren und steinigeren Ufern, an die keiner, der einmal den Sprung gewagt hat, so leicht wieder zurückkommt" (ebd.) Wir werden in diese Flüsse eintauchen, bei Interesse und sprachlichem Vermögen der Teilnehmer die Texte von Plath und Sarraute auch im Original lesen und eventuell auch in den Fremdsprachen diskutieren.

Wir werden versuchen, mit so poetischer wie rationaler Durchdringung der in ihnen verhandelten Existenzprobleme wieder ans sichere Ufer zurückzukehren, um dort am Ende des Seminars eine näherungsweise abgeklärte Sicht einzunehmen, die erklärt, warum die drei großen und als so notorisch kompliziert verschriene Damen im wahrsten Sinne des Wortes postmoderne Literaturgeschichte geschrieben haben, indem sie ihnen folgende Autorinnen und Autoren signifikant nicht nur beeinflussten, sondern inspirierten.
Semester: SoSe 2024