Eine gemeinsam verbrachte Nacht? Adlige Dame und Ritter? Nicht miteinander verheiratet? Was sich auf den ersten Blick nach Klatsch und Tratsch der Boulevardgazetten und des Trash-TV anhört, ist doch Teil der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters: der Morgen danach. Man erinnert sich an die schönen Stunden, lässt Details nochmal Revue passieren und beklagt die bevorstehende Trennung. Körperliche Liebe, Voyeurismus und die Angst entdeckt zu werden, geben den Texten ihre eigene Dynamik und innere Spannung. Die bedeutendsten Minnelyriker des Mittelalters haben diesen Moment und die damit verbundene Stimmung literarisch eingefangen und beschreiben die Schwellensituation zwischen verborgenem Nachtlager und morgendlicher Hektik angesichts einer erwachenden Öffentlichkeit in immer neuen Varianten. Das sogenannte ,Tagelied' bietet dabei einen systemischen Gegenentwurf zu den entsagungsvollen Kanzonen der Hohen Minne. Im Seminar sollen ausgewählte Texte von der Frühzeit bis ins Spätmittelalter hinein gemeinsam analysiert sowie die einschlägigen Forschungspositionen kritisch diskutiert werden.

Textgrundlage:
Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart 1992. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003 (Reclam 8831).

Bitte schaffen Sie sich diese Ausgabe an und bringen sie zur ersten Sitzung mit. Sofern das Seminar online stattfindet, erwarte ich, dass Sie sich um eine stabile Internetverbindung bemühen und sich mit Kamera der Seminardiskussion zuschalten.


Semester: ST 2024