„However, Iam invested–because I don’t see how we will be able to exist otherwise–in the end ofthe world as we know it.“ (Denise Ferreira da Silva)

„Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt, in welche viele Welten passen.“ (Ejército Zapatista de Liberación Nacional)

Mit dem 20. Jahrhundert ist die Idee der Welt als einer Einheit, die dem Menschen als Ganzesansichtig werden könnte, ins Wanken geraten und im beginnenden 21. Jahrhundert in eine Krisegerutscht–nicht zuletzt scheinbar paradoxerweise einhergehend mitderGlobalisierungundzunehmenden Vereinheitlichung globaler Zusammenhänge.‚Das Ende der Welt‘ meinte also keineWeltuntergangsszenarien und Apokalypsen, sondern beschreibt letztlich die Erosioneinerbestimmten Idee von Universalismus‘: DasBild derWelt, die Vorstellung von Einheit und Ganzheit,mitEuropaals Zentrumund dem Menschen (d.h. dem europäischen, weißen, männlichen Menschen)als Richtschnur. Ganz besonders in der jüngsten Zeit ist diese Kritikan einem Teil des Erbes derModerne und mithin der Aufkärungnoch einmal durchdie Dekonstruktion sowiepost-unddekoloniale Ansätzeverschärft worden.

Aber nicht nur begrifflich stehen dabei‚die‘Welt (und‚der‘Mensch) zur Debatte, sondern vor allemauch darstellungspolitisch.Denn bereits die Annahme, dass Erfahrungen zu einem Bild der Weltzusammengefasst werden können, das dann alsWelt als solcheaufgefasst werden kann, geht einhermit der Konstruktion neuzeitlicher Schauanlagen. Und die gegenwärtige Krise dieser Vorstellung von Welt hat sowohl auf szenische Künste, als auch auf geisteswissenschaftliche Beschäftigungen immermehr Auswirkung. Während noch bis vor nicht allzu langer Zeit oftmals in der Theaterwissenschaft die Rede vom „Welttheater“ war, d.h. dem Theater als Ort eines weltweiten Kanons wie auch derBühne als Spiegel der Welt, so sind es nun mehr die szenischen Arbeiten, die daran Zweifel wecken. Viele Inszenierungen und Performances der letzten 10 Jahrearbeitenan anderen Denkweisen vonder Welt–oder gar von pluralen Welten–und vom Menschen.

Im Kern dessen stehen dabei also letztlich immer wieder Fragen der Darstellung: Wie wird diese Vor-und Darstellung der Welt als Einheit erzeugt, wie durchbrochen oder verändert? Wie ist die Welt anders verhandelbar? Oder auch noch konkreter: Was findet in der vereinheitlichenden Annahme keinen Platz und wird ausgeschlossen? Wie findet dieses Ausgeschlossene mit seinen je spezifischen Ansprüchen ebenso Raum? Welche anderen Weltzugänge und-verhältnisse entgehen uns und können diese erfahrbar werden? Und wie ließe sich ein Gemeinsames, Geteiltes dennochzeigen, ohne falsche Rückschlüsse zu einem fixen Bild und allgemeingültigen Behauptungen zu summieren? Die Bühne steht dann nicht als Bild füretwas vor uns, sondern geht uns anders an.

In diesem Seminar werden wir diesen Fragen nachgehen und dazu sowohl experimentelle Theaterarbeiten ansehen, als auch herausfordernde, aber lesenswerte und viel diskutierte Texte vor allem aus philosophischer Dekonstruktion und postcolonial studies, aber auch aus black studies und aus materialistischen Ansätzen lesen. Angedacht als Möglichkeiten für die Analysesitzungen sind bislang Theater-und Tanzarbeiten von Rimini Protokoll, Walid Raadund Jalal Toufic, William Kentridge, Kettly Noel, Kate McIntosh, Amanda Piña/nadaproductionsundAriel Efraim Ashbel, ebenso wie Videokunst etwa von John Akomfrah, Hito Steyerl, Monira Al Quadiri,The Otolith Groupoder Steve McQueen. Wenn jedoch möglich, so sollen auch fakultativ in kleinen Gruppen im Ruhrgebiet Inszenierungen (mit dem nötigen Abstandzueinander) besucht werden. Geplant sind außerdem Texte von Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy, Gayatri ChakravortySpivak,Silvia Federici, Édouard Glissant, Achille Mbembe, Walter Mignolo, Dipesh Chakrabarty, Paul Gilroy, Sylvia Wynter, Denise Ferreira da Silvaund Edouardo Viveiros de Castro.Dabei werden wir uns zum Beispiel mit Mundialisierung, Multiversen/Pluriversen, der „Chaos-Welt“ (Glissant) sowie anderen Epistemologienbeschäftigen. Und was kommteigentlich ‚nach‘ dem Ende der Welt?

Format: Der Kurs findet online per Präsenzsitzungen im Videokonferenzsystem Zoom statt, wird aber durch kleinere schriftliche Aufgaben auf dem Lernportal Moodle ergänzt bzw. abgewechselt (Mischform aus synchroner und asynchroner Lehre mit stärkerem Gewicht auf dem synchronen Teil). Hinzu kommen einige wenige Präsenztermine mit möglicherweise Theaterbesuchen und Treffen(in Tor5), jeweilsin Kleingruppen.

Teilnahmebedingungen und Hinweise: Beginn der 1. Sitzung: 3. November2020

Verpflichtende Anmeldung bis 15.10. Nur für Master und fortgeschrittene BA-Studierende (ab dem 3. Semester, Abschluss des Grundkurs-Moduls Voraussetzung). Ein reges Interesse, sich mit kritischen Ansätzen zu beschäftigen, ist erwünscht, sei es aus einem geisteswissenschaftlichen oder künstlerischen Hintergrund heraus (oder beidem). Der Kurs schließt lose an das Seminar „Die dekoloniale Bedingung“ vom letzten Semester an, ist aber auch genauso für Neueinsteiger*innen geeignet.

Lektüre-/Sichtungshinweisezur Vorbereitung:

-Denise Ferreira da Silva: An End To „This“World. Denise Ferreira Da Silva interviewed by Susanne Leeb and Kerstin Stakemeier. In: Texte zur Kunst Web. 12.04.2019. https://www.textezurkunst.de/articles/interview-ferreira-da-silva/

-Silvia Federici: „Kolonisierung und Christianisierung. Caliban und Hexen in der neuen Welt“. In: Dies.: Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien/Berlin: Mandelbaum 2020, S. 269-296.

-Maximilian Haas: „Theoretische Bemerkungen zu einer Dramaturgie der nichtmenschlichen Anderen (nach Haraway)“. In: Sandra Umathum/Jan Deck (Hg.): Postdramaturgien. Berlin: Neofelis 2020, S. 194-208.

-Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 76-111.

-Nikolaus Müller-Schöll: „Über Theater überhaupt und über das Theater des Menschen“. In: Leon Gabriel/ Ders. (Hg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie. Bielefeld: transcript 2018, S. 59-80.

-Michiel Vandevelde: „Ends of Worlds” (Videoarbeit zur gleichnamigen Performance) https://www.pact-zollverein.de/journal/michiel-vandevelde-ends-worlds-Sylvia Wynter/Katherine McKittrick: „Unparalleled Catastrophe for Our Species? Or, to Give Humanness a Different Future: Conversations”. In: Katherine McKittrick (Hg.): Sylvia Wynter: On Being Human as Praxis. Durham/London: Duke University Press, S. 9-89.


Semester: WT 2024/25