Nicht auf das bloße Abbild eines Menschen blicken wir im Bildnis, vielmehr auf ein kĂŒnstlerisch bearbeitetes Subjekt, das uns als bereits 'gedeutete' Person prĂ€sentiert wird. Seine Darstellung ist immer auch Ausdruck eines zeitgenössischen SelbstverstĂ€ndnisses. FĂŒr seine Identifikation scheint das Gesicht als unverkennbarer Marker individueller Erscheinung zu stehen. Die Genese des PortrĂ€ts ist dabei keinesfalls als KontinuitĂ€tsgeschichte zu denken. Im Ablauf der Zeit konnten Aufgabe, Form und Funktion variieren.
Die in Jacob Burckhardts Studie „Die Kultur der Renaissance in Italien“ 1860 proklamierte ‚Entdeckung des Individuums‘ prĂ€gte lange Zeit die kunsthistorische Forschung. Physische Ähnlichkeit und individuelle Unverwechselbarkeit wurden zu den bestimmenden Faktoren dieser Gattung, deren Beginn in die frĂŒhe Neuzeit datiert wurde. Doch zeigt die Kunst des Mittelalters schon Ausdrucksformen von IndividualitĂ€t, die von der erwarteten, grĂ¶ĂŸtmöglichen PortrĂ€tĂ€hnlichkeit losgelöst waren.
Anhand ausgewĂ€hlter Beispiele nordalpiner Bildniskunst aus der Zeit zwischen 1300 und 1500 sollen den Teilnehmer*innen grundlegende Kenntnisse zur FrĂŒhgeschichte des Bildnisses vermittelt werden. Gemeinsam diskutiert werden gattungsspezifische Fragen, Probleme und Typisierung sowie das VerhĂ€ltnis von Ideal, Bild, Individuum und IdentitĂ€t.

Semester: ST 2024