Hartmann von Aue erzählt – um 1190 – die Geschichte eines ‚guten Sünders‘: Gregorius geht aus einer Geschwisterliebe hervor und wächst als Findelkind in der Fremde im Kloster auf. Als er in die höfische Welt zurückkehrt, heiratet er unwissend seine Mutter, eine ‚Sünde‘, für die er 17 Jahre als Einsiedler auf einer Felseninsel im Meer büßt, um zuletzt auf wunderbare Weise durch göttliche Gnade geheiligt zu werden. Was Hartmanns Erzählung dabei bis heute zu einer spannenden Lektüre macht, ist nicht nur das provokante Leben des Helden, dessen brüchige Identität durch seine doppelte höfische und klösterliche Herkunft geprägt ist. Der Text hat zugleich eine vielschichtige Erzählform, deren kunstvolle Gestaltung sich gerade im Vergleich mit Hartmanns französischem Prätext – der Legende des heiligen Grégoire (um 1150) – deutlich zeigt. Aus narratologischer Sicht betrifft dies etwa die erzählten Figuren und Dinge, die im wiederholten Wechsel der Schauplätze konstruierte Erzählwelt, die Gestaltung einer auktorialen Erzählinstanz und nicht zuletzt die spielerische Kombination der Gattungen des höfischen Romans und der Heiligenlegende. So gesehen kann der Gregorius als geradezu exemplarisch für die höfische Erzählkultur um 1200 gelten.

Im Seminar werden wir Hartmanns Gregorius intensiv lesen und in Vergleichen mit seinem französischen Prätext erarbeiten. Schwerpunkte bilden einerseits Analysen der Figuren und erzählten Dinge, anderseits die Fragen nach der Gattung, den intertextuellen Bezügen und den kulturellen Kontexten. Ein besonderer Akzent wird nicht zuletzt auf der Rezeption des mhd. Textes in Thomas Manns Roman Der Erwählte liegen. Ziel ist, gemeinsam eine Interpretation der Texte und deren Einordnung in aktuelle Forschungsdiskussionen zu erarbeiten.

Textausgaben (bitte anschaffen): Hartmann von Aue: Gregorius. Neu bearb. von Burghart Wachinger. 15. Aufl. Tübingen 2004 (Altdeutsche Textbibliothek 2); Thomas Mann: Der Erwählte. Roman. 29. Aufl. Frankfurt/M. 2012. Zur Einführung: Volker Mertens: Gregorius, in: Hartmann von Aue: Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein. Hrsg. und übersetzt von V. M. Frankfurt/Main 2008 (Deutsche Klassiker/Taschenbach), S. 779-802. – Arbeitsmaterialien werden den Teilnehmer*innen in Moodle zur Verfügung gestellt.

TN: Aktive Teilnahme und Mitarbeit in einer Expert/innengruppe. LN: zusätzlich mündliche Prüfung (B.A. 15‘; M.A. 30‘) oder schriftliche Hausarbeit (B.A.: 12 S.; M.A. 18 S.).


Semester: SoSe 2024