"Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet und organisiert wird.“

-        Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 251.

Hannah Arendts Begriff des Erscheinungsraumes dient diesem Kurs als zentrale Figur, um das Verhältnis von (darstellender) Kunst und Politischem zu befragen. Was oder wer zeigt sich wie in diesem Erscheinungsraum? Welche Normierungen durchziehen ihn? Ist dieser Raum oder diese Bühne überhaupt gegeben? Oder gibt es nicht vielleicht – anders als dies Arendt sieht – mehrere Erscheinungsräume mit je spezifischen Bedingungen, Ein- und Ausschlüssen? Was teilen wir in diesem immer erst neu entstehenden Erscheinungsraum bzw. Erscheinungsräumen? Diese Fragen implizieren, dass sich Theater in seinem politischen Gehalt nicht primär über seinen Inhalt auszeichnet, sondern vielmehr über die Untersuchung seiner eigenen Möglichkeiten. Die Beschäftigung mit den Erscheinungsräumen des Politischen kann daher auch als ‚Darstellungspolitik‘ bezeichnet werden.

In den letzten drei Jahrzehnten wurden Arendts Ansätze, ebenso wie etwa diejenigen Carl Schmitts oder auch Walter Benjamins, von zeitgenössischen Denker*innen erweitert. Dabei wurde eine Unterscheidung zwischen der Politik (als gegründeter Staatsform und ihrer Verwaltung) und dem Politischen (etwa als Streik, Unterbrechung, Gemeinschaft, Öffentlichkeit, …) herausgearbeitet, oftmals in direkter Auseinandersetzung mit Kunst und Theater. Der Kurs sieht damit zwei zentrale Untersuchungsbereiche vor: Zum einen die Analyse künstlerischer Praktiken, die die Bedingungen des In-Erscheinung-Tretens behandeln und dabei womöglich das, was sicht- und sagbar ist, verschieben. Beispiele, die wir auch z.T. im Kurs analysieren werden, sind Inszenierungen von Antonia Baehr, Christoph Schlingensief, Boyzie Cekwana, Laurent Chétouane, Tino Sehgal, She She Pop, Public Movement, Milo Rau, Anta Helena Recke und weiteren. Zum anderen werden wir komplementär dazu die zentralen Theorien zur Differenz von Politik-Politischem untersuchen, wie sie z.B. formuliert wurden von: Jean-Luc Nancy, Chantal Mouffe/Ernesto Laclau, Jacques Rancière, und Roberto Esposito.

Ziel ist es, das Vokabular im Umgang mit Theater (und Theorie) dahingehend zu schärfen, als dass das inhärente politische Potential in jedem Darstellungsprozess untersucht werden kann: Als Geschehen, bei dem das Sichtbarwerden, das Handeln und mithin die Bühne selbst als Teil der politischen Fragen, in die sowohl Theater als auch Gesellschaft verwickelt sind, zur Debatte stehen.

 

Hinweise:

Nur für Master und weit fortgeschrittene BA-Studierende (ab dem 5. Semester, Abschluss des Grundkurs-Moduls Voraussetzung).

Der Kurs versteht sich als Einübung in das Wechselverhältnis von (theaterwissenschaftlicher, aber auch philosophischer und politischer) Theorie und Analyse. Er ist thematisch mit der Vorlesung „Repräsentation“ und dem Forschungsseminar von Prof. Etzold verbunden. Eine kombinierte Belegung dieser Veranstaltungen bietet sich insofern an, eine Einzelbelegung ist aber jeweils genauso möglich.

Das Seminar dient auch als Vorbereitung für ein Symposium mit dem Arbeitstitel „Krise der Repräsentation und universale Menschenrechte“, das vom 18.-20. Juli in Kooperation mit der Ruhrtriennale stattfindet (Leitung des Symposiums durch Prof. Jörn Etzold und Leon Gabriel). Studierende haben die Möglichkeit, dort unter vor- und nachbereitender Betreuung auch einen eigenen etwa 10-minütigen Beitrag vorzustellen und darüber einen Leistungsschein im Kurs zu erwerben anstelle von Hausarbeit oder mündlicher Prüfung. Die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten dessen werden im Kurs erläutert.

Eine Anwesenheit in der ersten Sitzung ist unbedingt nötig (bei Verhinderung bitte beim Seminarleiter per Mail melden). Da das Seminar von der gemeinsamen Diskussion, bei der die Positionen angewandt und überprüft werden, lebt, ist ein solitäres Heimstudium nicht möglich. Regelmäßige Teilnahme ist deshalb für die erfolgreiche Belegung des Kurses unabdingbar.

Am 8. Mai findet eine Doppelsitzung von 10-12 Uhr statt!

 

Lektüre zur Vorbereitung:

-        Arendt, Hannah: „Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten“, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, S 420-433.

-        Müller-Schöll, Nikolaus/Schallenberg, Andre/Zimmermann, Mayte (Hg.): Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert, Berlin 2012.

-        Oliver Marchart: Die politische Differenz. Berlin 2010, S. 32‐58.

-        Nancy: Jean-Luc: „Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus‘ zur Gemeinschaftlichkeit der ‚Existenz‘“, in: Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 167-204.

-        Rancière, Jacques: „Die Paradoxa der politischen Kunst“, in: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2010, S. 63-100.

 

Beginn der 1. Sitzung: 10. April 2019

Anforderungen für:

-TN: regelmäßige Teilnahme, Gruppenexpertise, wöchentlichen Verfassen von zwei Fragen an die Texte (Upload in Moodle)

-LN: Zusätzlich zu mündlichen Anforderungen schriftliche Hausarbeit oder mündliche Prüfung


Semester: SoSe 2024