Längst ist Theorie ein*e Akteur*in geworden. Kunst und ihre Institutionen sind in theoretische Positionen verwoben, die sich mit dem Wandel des Kunstverständnisses im 20. Jahrhundert von der reflektierenden Betrachtung des ‚Wahren, Schönen, Guten„ gelöst haben (welches selbst nie neutral oder interesselos war). Keine Biennale, kein Spielplanheft, keine als ‚zeitgenössisch„ deklarierte künstlerische Arbeit, keine kuratorische Podiumsdiskussion kommt heute ohne eine Rückbindung an philosophische und vor allem politische Diskurse aus. Doch wie jeder Trend sind auch die engagiertesten Diskurse mitunter einem schnellen Schwund und Vergessen ausgeliefert.
Dass nun aber Theorie oder Philosophie einerseits und Kunst – mithin Bühnenkunst – andererseits ein so enges Verhältnis eingehen können, liegt nicht zuletzt an ihrem gemeinsamen Einsatz als kritisches Denken und darüber in ihrer gegenseitigen
Verschränkung. Denn die philosophische Dekonstruktion (u.a. Jacques Derrida, Samuel Weber, Werner Hamacher) und daran anschließend die Queer Studies (u.a. Judith Butler, Jack Halberstam, Donna Haraway), Postkolonialismus (u.a. Gayatri Chakravorty Spivak, Dipesh Chakrabarty, Achille Mbembe) und die Theorien des Politischen (u.a. Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Chantal Mouffe) haben das Denken von Kunst und Theater herausgefordert und wurden wiederum selbst von Kunst und Theater herausgefordert. In den letzten Jahren haben sich nun ergänzend oder kontrastierend dazu einige neue Fragenkomplexe herausgebildet, die der Kurs untersuchen möchte und die unter Stichwörtern firmieren wie: Postfundamentalismus, Posthumanismus, Spekulativer Realismus/Object Oriented Ontology oder New Materialism. Jeder dieser Bereiche kann als Versuch verstanden werden, den ‚blinden Fleck„ eines anderen Feldes näher zu beleuchten und insofern stehen auch diese theoretischen Felder verstanden als Interventionen oder politische Eingriffe in einem Dialog miteinander.
Jeder dieser Bereiche kann aber auch die Bedingungen von Theater oder das, was überhaupt eine Bühne ist, befragen. Entgegen einem bedauerlicherweise auch im Theaterbetrieb schnell stattfindenden Verbrauch von Positionen durch das kurzlebige Tagesgeschäft sollen in diesem Kurs einige zentrale und sehr aktuelle philosophische Theoriedebatten jeweils dargelegt, in ihrer Auseinandersetzung mit theaterwissenschaftlichen Positionen untersucht und schließlich anhand von möglichst gemeinsam besuchten Inszenierungen überprüft werden. Methodisch fragt das Seminar: Wie erschließen wir uns Theorie? Wie gehen wir mit ihr in Bezug auf unsere Gegenstände um? Wo stoßen wir an Grenzen der Theorie? Wo stößt diese uns an Grenzen? Wie sind wir als Kunstmachende und Kunstwahrnehmende in Diskurse verflochten?
Das Seminar versteht sich deshalb als Forschungszusammenhang, für das der Seminarleiter zwar ein Programm vorlegt, bei dem die genaue Festlegung der Themenkomplexe nach Wünschen der Teilnehmenden jedoch angepasst werden kann. Eine wie auch immer geartete Berührung mit den oben erwähnten Theorien (von Dekonstruktion bis New Materialism) ist wünschenswert – egal ob dies im Kontext von Seminaren oder im Kunstkontext geschehen ist und egal ob dies eher Verwirrung ausgelöst hat. Spezifische Vorkenntnisse sind aber nicht erforderlich. Voraussetzung für die Teilnahme ist vielmehr die Bereitschaft, sich auf neues, teils widerspenstiges Denken einzulassen, vor allem aber dieses mit Theatererfahrungen zu kontrastieren – und dabei auch mit Mut auf Schwächen der Behauptung von ‚Trends„ zu stoßen. Eine Anwesenheit in der ersten Sitzung ist für die Abstimmung und Klarheit darüber, wie die gemeinsame Arbeit im Kurs im Interesse aller Beteiligten gestaltet werden soll, unbedingt nötig (bei Verhinderung bitte beim Seminarleiter per Mail melden). Da das Seminar von der gemeinsamen Diskussion, bei der die Positionen angewandt und überprüft werden, lebt, ist ein solitäres Heimstudium ist nicht möglich. Regelmäßige Teilnahme ist deshalb für die erfolgreiche Belegung des Kurses unabdingbar, ebenso wie die Übernahme einer Sitzungsexpertise oder in Absprache alternative aktive Formen der Aufbereitung von Sitzungen. Für einen Leistungsschein: Hausarbeit bzw. mündliche Prüfung.
Optionale Texte zur Vorbereitung:
Barad, Karen:
“Intra-actions” (Interview of Karen Barad by Adam Kleinmann), in: Mousse 34 (http://johannesk.com/posthumanist/readings/barad-mousse.pdf)
Derrida, Jacques: “Die Künste des Raumes”, in: Ders.: Denken, nicht zu sehen, Wien 2018, S. 7-40.
Osborne, Peter: “Contemporary art is post-conceptual art”, Vortrag, 9.Juli 2010,
http://www.fondazioneratti.org/mat/mostre/Contemporary%20art%20is%20post-conceptual%20art%2/Leggi%20il%20testo%20dell
a%20conferenza%20di%20Peter%20Osborne%20in%20PDF.pdf
Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg 2015.

Semester: WT 2025/26