Kapitel 16: Differentialgleichungen I

16.1 Beispiele

Differentialgleichungen spielen in den Ingenieurwissenschaften eine herausragende Rolle.

In der Mechanik werden alle dynamischen Vorgänge durch die Newtonsche Gleichung beschrieben, nachdem die Änderung des Impulses eines Massenpunktes gleich der Summe der auf diesen wirkenden Kräfte ist:

$\dot{\vec{p}}(t)=\sum\limits_{j}\vec{F}_j$

In der Regelungstechnik werden vor allem gewöhnliche lineare Differentialgleichungssysteme zur optimalen Steuerung benutzt. Andere Gebiete arbeiten mit partiellen Differentialgleichungen, also Differentialgleichungen für Funktionen von mehreren Variablen, zum Beispiel mit der Navier-Stokes-Gleichung oder der der Poröse-Medien-Gleichung in der Strömungslehre, oder mit der Wellengleichung in der Schwingungsmechanik. Auch die Wärmeleitungsgleichung, die der Thermodynamik zugrunde liegt, ist eine (partielle) Differentialgleichung, so wie etwas allgemeiner Stoff- oder Wärmetransport mit Hilfe von Transport-, Diffusions- oder Wärmeleitungsgleichung in vielen Varianten modelliert werden. Man kann daher fast so weit gehen zu behaupten, dass angehende Ingenieure in den ersten Semestern vor allem deshalb Differential- und Integralrechnung lernen müssen, weil Differentialgleichungen für Ingenieure so wichtig sind.

Definition (Differentialgleichung n-ter Ordnung):
Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung ist eine Gleichung der Form

$F(t,x(t),\dot{x}(t),\ddot{x}(t),x^{(3)}(t),\dots,x^{( n)}(t))=0$

Gesucht wird eine Lösung der Differentialgleichun, also eine n-mal differenzierbare Funktion von t, die zusammen mit ihren ersten n Ableitungen diese Gleichung für alle t erfüllt.

Die Newtonsche Differentialgleichung für das mathematische Pendel

$\ddot{x}(t)+\sin(x(t))=0$

ist also eine Differentialgleichung 2. Ordnung, weil die höchste vorkommende Ableitung die zweite Ableitung ist.

Bemerkung:
Die Namen der Variablen sind für die Theorie der Differentialgleichungen natürlich völlig unwichtig. Wir werden hier die unabhängige Variable t nennen, weil wir uns die Lösungen der Differentialgleichung oft als Bahnkurve vorstellen, die mit der Zeit t durchlaufen wird. In vielen Büchern werden Differentialgleichungen dagegen in der Form

$F(x,y(x),y’(x),y”(x),y^{(3)}(x),\dots,y^{( n)}(x))=0$

behandelt und man stellt sich die Lösungen eher als Graphen über der $$x$$-Achse vor.

Die meisten in der Praxis vorkommenden Differentialgleichungen lassen sich in der Form

$x^{( n)}(t)=f(t,x(t),\dot{x}(t),\ddot{x}(t),x^{(3)}(t),\dots,x^{( n-1)}(t))$

schreiben, d.h. man kann nach der höchsten vorkommenden Ableitung auflösen. Diese Differentialgleichungen nennt man explizit und nur mit solchen werden wir uns in diesem Kapitel befassen.

Insbesondere ist eine explizite Differentialgleichung erster Ordnung immer von der Form

$$\dot{x}(t)= f(t,x(t))$$

mit einer Funktion $$f$$, die von zwei Variablen abhängt.

Diese Differentialgleichung 1.Ordnung hat eine geometrische Interpretation.
In der t-x-Ebene wird jedem Punkt (t,x) eine Zahl f(t,x) zugeordnet. Diese beschreibt die Steigung die eine Lösungskurve x=x(t) der Differentialgleichung haben muss, wenn sie durch den Punkt (t,x) verläuft. Umgekehrt kann man die entsprechenden Steigungen an jedem Punkt einzeichnen und erhält so das Richtungsfeld der Differentialgleichung. Lösungskurven sind dann in jedem Punkt tangential an dieses Richtungsfeld. Insbesondere kann man mit etwas Übung beim Betrachten des Richtungsfeldes schon erkennen, wie die Lösungen der Differentialgleichung ungefähr verlaufen.

Für die Differentialgleichung

$$\dot{x}(t) = x \sin(t)$$

sieht das Richtungsfeld so aus:

Applet: Richtungsfeld

Bewegen Sie den Punkt P(a,b) mit den Schiebereglern oder der Maus. Es wird automatisch eine Kurve eingezeichnet, die durch P verläuft und tangential an das Richtungsfeld ist.

Beispiel:
Das einfachste Beispiel einer Differentialgleichung ist die Differentialgleichung 1.Ordnung
$$\dot{x}(t)=f(t)$$
bei der die rechte Seite weder von der Funktion $$x$$ noch von ihren Ableitungen abhängt. Gesucht ist also eine Funktion, deren Ableitung gerade die Funktion $$f(t)$$ ist. Diese Fragestellung kennen wir aus den beiden vorangehenden Kapiteln zur Genüge. Natürlich ist $$x(t)$$ dann eine Stammfunktion von $$f$$ und wir können als Lösung
$$x(t)=\int f(t)\,\mathrm{d}t\;+\;C$$
direkt hinschreiben.

Hieran sieht man gleich zwei wichtige Dinge:

  • Es wird nichts über die Integrationskonstante ausgesagt. Die Differentialgleichung hat nämlich viele Lösungen. Erst wenn man noch eine zusätzliche Bedingung stellt (meistens den Anfangswert vorgibt, d.h. welchen Wert x(t) für ein bestimmtes $$t=t_0$$ annehmen soll), wird die Lösung in der Regel eindeutig.

  • Oft ist man bereits zufrieden, wenn man Lösungen von Differentialgleichungen durch ein Integral darstellen kann, denn in vielen Fällen lässt sich die Lösung gar nicht mit Hilfe der uns bekannten Funktionen (Wurzeln, Exponentialfunktion, Sinus, Cosinus, etc.) darstellen. Abgesehen von den sogenannten linearen Differentialgleichungen ist diese Situation sogar die Regel.

Zuletzt geändert: Freitag, 28. August 2015, 16:43