13.3 Die Regel von L'Hospital

Mit Hilfe der Differenzierbarkeit und des Mittelwertsatzes lassen sich auch Grenzwerte berechnen, die sonst schwierig oder gar nicht zugänglich sind. Dazu gehören insbesondere Grenzwerte der Typen "\(\displaystyle\frac {0}{0}\)", "\(\displaystyle\frac{\infty}{\infty}\)", "\(0\cdot \infty \)" und "\(1^\infty\)". Sie lassen sich mit Hilfe der Regel von L’Hospital auf andere Grenzwerte zurückführen, die in vielen Fällen leichter zu berechnen sind (wenn man sich geschickt anstellt...). Die Regel von L’Hospital stammen interessanterweise nicht von jenem Marquis de L’Hospital (1661-1704), nach dem sie benannt sind, sondern von Johann Bernoulli. L’Hospital kaufte sie von Bernoulli und veröffentlichte sie dann unter seinem Namen.

Definition (einseitige Grenzwerte):

Sei \(f\colon (a,b)\to \mathbb {R}\) auf einem offenen Intervall definiert. Dann existiert für \(f\) der linksseitige Grenzwert \(c:=\lim \limits _{x\to b-} f( x)\), falls für jede Folge \((x_ n)_{n\in \mathbb {N}}\) mit \(x_ n\leq b\) und \(\lim \limits _{n\to \infty }x_ n=b\) gilt:

\( \lim \limits _{n\to \infty }f( x_ n)=c . \)

Andere Schreibweisen für linksseitige Grenzwerte sind \(\lim \limits _{x\nearrow b} f( x)\) und \(\lim \limits _{x\to b-0} f( x)\).

Analog existiert der rechtsseitige Grenzwert \(\tilde{c}:=\lim \limits _{x\to a+} f( x)\), falls für jede Folge \((x_n)_{n\in \mathbb {N}}\) mit \(x_ n\geq a\) und \(\lim \limits _{n\to \infty }x_ n=a\) gilt:

\( \lim \limits _{n\to \infty }f( x_ n)=\tilde{c} .\)

Andere Schreibweisen für rechtsseitige Grenzwerte sind \( \lim\limits _{x\searrow a} f( x) \) und \(\lim \limits _{x\to a+0} f( x)\).

Satz (Regel von l'Hospital):

Seien \(f,g\colon (a,b)\rightarrow \mathbb {R}\) differenzierbare Funktionen, \(g(x)\neq 0\) für alle \(x\in (a,b)\) und

\( \lim\limits_{x\rightarrow b}f( x)=0=\lim\limits_{x\rightarrow b}g(x). \)


Falls \(g’(x)\neq 0\, \forall x\in (a,b)\) und der linksseitige Limes von \(\displaystyle\frac {f’}{g’}\) für \(x\rightarrow b\) existiert, dann konvergiert auch \(\displaystyle\frac {f}{g}\) für \(x\rightarrow b\) und es ist

\(\lim\limits_{x\rightarrow b-}\displaystyle\frac{f( x)}{g( x)}=\lim\limits_{x\rightarrow b-}\displaystyle\frac{f’(x)}{g’( x)}.\)


Anschaulich kann man die Regel von L’Hospital folgendermaßen plausibel machen: Wenn \(\lim \limits _{x \to b}f( x) = \lim \limits _{x \to b}g(x) = 0\) ist, dann lauten die Gleichungen der Tangenten an die Schaubilder von \(f\) und \(g\) im Punkt \(b\) \(y=f’(b)\, \cdot (x-b)\) und \(y=g’(b)\, \cdot (x-b)\). Der Quotient \(\displaystyle\frac {f’(x_0)\, \cdot (x-x_0)}{g’(x_0)\, \cdot (x-x_0)}\, =\, \displaystyle\frac {f’(x_0)}{g’(x_0)}\) ist also eine Näherung für \(\displaystyle\frac {f( x_0)}{g(x_0)}\).

Beweis:
Die Tatsache, dass \( c:=\lim\limits _{x\rightarrow b-}\displaystyle\frac {f’(x)}{g’(x)} \) existiert bedeutet, dass es zu jedem \(\varepsilon >0\) ein \(\delta >0\) gibt mit der Eigenschaft, dass

\( b-\delta<x<b\;\Rightarrow\; \left|\displaystyle\frac{f'(x)}{g'(x)}-c\right|<\varepsilon \)


Wir wollen zeigen, dass für dasselbe \(\delta \) gilt:

\( b-\delta<x<b\;\rightarrow\;\left|\displaystyle\frac{f(x)}{g(x)}-c\right|<\varepsilon. \)


Wähle dazu \(x\in \mathbb {R}\), so dass \(b-\delta <x<b\).
Definiere eine Funktion \(h\colon(x,b)\rightarrow \mathbb {R}\) durch

\( h( y):=f( x)g( y)-f( y)g( x) \)


Diese Funktion kann man stetig fortsetzen, indem man \( h( b):=0\) setzt, da ja \(\lim\limits _{y\rightarrow b-}f( y)=\lim \limits _{y\rightarrow b-}g( y)=0\). Also ist \(h( x)=0=h( b)\). Da \(h\) auf dem Intervall \((x,b)\) bezüglich \(y\)(!) differenzierbar ist, kann man den Satz von Rolle anwenden. Es existiert also ein \(\xi \in (x,b)\) mit \(h’(\xi )=0\)

\(\begin{array}{rcl}&\Rightarrow&f( x)g’(\xi)=f’(\xi)g( x)\\&\Rightarrow&\left|\displaystyle\frac{f( x)}{g( x)}-c\right|=\left|\displaystyle\frac{f’(\xi)}{g’(\xi)}-c\right|<\varepsilon\end{array}\)


da \(|\xi -b|<\delta \). Da dieses Argument für beliebige \(x\in (b-\delta ,b)\) gilt, ist demnach

\(\left|\displaystyle\frac{f( x)}{g( x)}-c\right|<\varepsilon\)


für alle \(x\in (b-\delta , b)\).

Beispiele:

  1. Verhalten der Sinusfunktion nahe \(0\): \(\lim\limits_{x\rightarrow 0}\displaystyle\frac{\sin{x}}{x} = \lim\limits_{x\rightarrow 0} \displaystyle \frac{\cos( x)}{1}=1\)

  2. Gebrochen-rationale Funktionen \( \lim\limits_{x\rightarrow 1+}\displaystyle\frac{4x^2+5x-9}{3x^3-7x+4}=\lim\limits_{x\rightarrow 1+}\displaystyle\frac{8x+5}{9x^2-7}=\displaystyle\frac{13}{2} \)

  3. Die Hyperbelfunktionen waren definiert als
    \( \sinh( x)=\displaystyle\frac{e^x-e^{-x}}{2},\;\;\;\cosh( x)=\displaystyle\frac{e^x+e^{-x}}{2},\;\;\;\text{und}\;\;\tanh( x)=\displaystyle\frac{\sinh( x)}{\cosh( x)}. \) Man rechnet leicht nach, dass \((\sinh( x))’=\cosh ( x)\) und \((\cosh( x))’=\sinh( x)\). Daher ist
    \( \begin{array}{rcl}(\tanh( x))’&=&\displaystyle\frac{(\sinh( x))’\,\cosh( x)-\sinh( x)\,(\cosh( x))’}{\cosh^2( x)}=1-\tanh^2( x)\\\lim\limits_{x\rightarrow 0}\displaystyle\frac{\ln{\cosh(\alpha x)}}{\ln{\cosh(\beta x)}}&=&\lim\limits_{x\rightarrow 0} \displaystyle\frac{\alpha\tanh(\alpha x)}{\beta\tanh(\beta x)}=\lim\limits_{x\rightarrow 0} \displaystyle\frac{\alpha^2(1-\tanh^2(\alpha x))}{\beta^2(1-\tanh^2(\beta x))} = \displaystyle\frac{\alpha^2}{\beta^2}\end{array} \)

Bemerkung:

Es gibt einige weitere Varianten dieses Satzes, die man ganz analog beweisen kann. Er gilt auch für einen rechtsseitigen Grenzwert \( \lim \limits _{x\to a}\displaystyle\frac {f( x)}{g(x)}\) oder falls \(\lim \limits _{x\to b-} f( x)=\lim \limits _{x\to b-}g(x)=\infty \) beide uneigentlich gegen \(+\infty \) konvergieren.

Treten unbestimmte Ausdrücke der Form \(\displaystyle\frac {0}{0},\displaystyle\frac {\infty }{\infty } ,0\cdot \infty , \infty -\infty , 0^0, 1^{\infty }\), dann kann man die Regel von L’Hospital folgendermaßen anwenden:

  • \(\displaystyle\frac {0}{0},\displaystyle\frac {\infty }{\infty }: \lim \limits _{x \rightarrow a}{f( x)}=\displaystyle\frac {\varphi (x)}{\psi (x)} =\displaystyle\frac {\varphi ’(x)}{\psi ’(x)}\)

  • \( 0\cdot \infty \): \( f( x)=\varphi (x) \cdot \psi (x)\) forme um: \( \lim \limits _{x \rightarrow a} {\displaystyle\frac {\varphi (x)}{\displaystyle\frac {1}{\psi (x)}}}\) und jetzt wende (i) an.

  • \( \infty - \infty \): \( f( x)=\varphi (x) - \psi (x)\) forme um: \( \varphi -\psi = \displaystyle\frac {\displaystyle\frac {1}{\psi }-\displaystyle\frac {1}{\varphi }}{\displaystyle\frac {1}{\psi \varphi }}\) und wieder i) anwenden.

  • \( 0^0,\infty ^0,1^{\infty }\): \( f( x)=\varphi (x)^{\psi (x)} \Leftrightarrow \ln (f( x)) =\psi (x) \ln (\varphi (x))\) ergibt die Form \( 0 \cdot \infty \). Wende somit ii) an. Hat man \(\lim \limits _{x \rightarrow \infty }{\ln (f( x))} = A\) berechnet, dann gilt für den Grenzwert der ursprünglichen Funktion \(f( x)\): \(\lim \limits _{x \rightarrow \infty }{f( x)} = e^ A\).

Beispiele:

  1. Als Anwendung auf einen Grenzwerte des Typs "\(0\cdot \infty \)" zeigen wir

    \(\lim\limits_{x\to 0}(x\cdot\ln(x))=\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{\ln( x)}{1/x}=\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{1/x}{-1/x^2}=\lim\limits_{x\to 0}(-x)=0.\)

  2. Für Grenzwerte des Typs \(1^{\infty }\) kann es hilfreich sein, den Logarithmus des betrachteten Ausdrucks zu bilden. Um \(\lim \limits _{x\to 0}(\cos x)^{1/x^2}\) zu berechnen, betrachtet man zunächst

    \( \begin{array}{rcl} \lim\limits_{x\to 0}\ln\left((\cos( x))^{1/x^2}\right)&=&\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{1}{x^2}\ln\left(\cos( x)\right)\\&&\\&=&\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{\ln\left(\cos( x)\right)}{x^2}\\&&\\&=&\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{-\sin( x)}{2x\cos( x)}\\&&\\&=&\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{-\cos( x)}{2\cos( x)-2x\sin( x)}=-\displaystyle\frac{1}{2} \end{array} \)

    Wegen der Stetigkeit der Exponentialfunktion folgt daraus

    \( \lim\limits_{x\to 0}(\cos( x))^{1/x^2}=e^{-1/2}=\displaystyle\frac{1}{\sqrt{e}}. \)

Zuletzt geändert: Mittwoch, 23. Januar 2019, 23:55