12.2 Ableitungsregeln

Zum Glück muss man nur von sehr wenigen Funktionen die Ableitung mühsam mit Hilfe der ursprünglichen Definition herleiten. Für die meisten Funktionen erhält man die Ableitung, indem man das Differenzieren mit Hilfe von einigen Regeln auf die Ableitung von einfacheren Funktionen zurückführt.

Satz (Ableitungsregeln):

Sei \((a,b)\subset \mathbb {R}\) ein Intervall und \(f,g\colon (a,b)\to \mathbb {R}\) im Punkt \(x_0\) differenzierbare Funktionen. Dann sind auch \(f+g\) und \(f\cdot g\) differenzierbar in \(\)x_0\(\) und es ist

\((f+g)’(x_0)= f’(x_0)+g’(x_0)\)

\((f\cdot g)’(x_0)=f’(x_0)\cdot g(x_0)+f(x_0)\cdot g’(x_0)\;\;\; \) (Produktregel)


Falls \(g(x_0)\neq 0\), dann ist auch \(f/g\) in \(x_0\) differenzierbar und es gilt die Quotientenregel

\(\left(\displaystyle\frac{f}{g}\right)’(x_0)=\displaystyle\frac{f’(x_0)\cdot g(x_0)-f(x_0)\cdot g’(x_0)}{g^2(x_0)}\)

Beweis: Dass man eine Summe zweier Funktionen einzeln ableiten darf, ergibt sich direkt aus der Definition:

\(\begin{array}{rcl}\displaystyle\frac{(f\!+\!g)(x_0\!+\!h)-(f\!+\!g)(x_0)}{h}&=&\displaystyle\frac{f(x_0\!+\!h)-f(x_0)}{h}+\displaystyle\frac{g(x_0\!+\!h)-g(x_0)}{h}\\&\rightarrow&\;\;\;f’(x_0)\;\;\;\;+\;\;\;\;g’(x_0)\end{array}\)


Wir zeigen nur noch, warum die Produktregel gültig ist, eine Begründung der Quotientenregel könnte man aber auf ähnliche Weise geben.

\(\begin{array}{rcl}\displaystyle\frac{(fg)(x_0+h)-(fg)(x_0)}{h}&=&f(x_0+h)\,\displaystyle\frac{g(x_0+h)-g(x_0)}{h}+\displaystyle\frac{f(x_0+h)-f(x_0)}{h}\,g(x_0)\\&\rightarrow&\;\;\;\;\;f(x_0)\;\;\cdot\;\;g’(x_0)\;\;\;\;\;\;+\;\;\;\;\;\;\;f’(x_0)\;\;\cdot\;\;g(x_0)\\\end{array}\)

Beispiel:

Die Ableitung eines Polynoms

\(p(x)=a_nx^n+a_{n-1}x^{n-1}+\dots a_2x^2+a_1x+a_0\)

ist

\(p’(x)=na_nx^{n-1}+(n-1)a_{n-1}x^{n-2}+\dots 2a_2x+a_1\)

Polynome werden also gliedweise differenziert.

Beispiel:

Die Ableitung der Funktion

\(f(x)=\displaystyle\frac{2x-1}{x^2+1}\)

ist nach der Quotientenregel

\(f’(x)=\displaystyle\frac{2(x^2+1)-(2x-1)\cdot 2x}{(x^2+1)^2}=\displaystyle\frac{-2x^2+2x+2}{(x^2+1)^2}\)

Auf diese Weise kann man beliebige rationale Funktionen differenzieren. Insbesondere ist der Definitionsbereich der Ableitung nicht kleiner als der Definitionsbereich der Funktion selbst, da der Nenner nur quadriert wird und so keine weiteren Nennernullstellen hinzukommen können.

Satz (Ableitung der trigonometrischen Funktionen):

Die trigonometrischen Funktionen \(\sin \), \(\cos \) und \(\tan \) sind auf ihrem Definitionsbereich differenzierbar und es gilt:

  • \((\sin ( x))’ = \cos ( x)\)

  • \((\cos ( x))’ = -\sin ( x)\)

  • \((\tan ( x))’ = \displaystyle\frac {1}{cos^2 ( x)} = 1+\tan ^2 ( x)\)

Begründung:
Hier können wir die beiden Grenzwerte

\(\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{\sin(x)}{x}=1\text{ und }\lim\limits_{x\to 0}\displaystyle\frac{\cos(x)-1}{x}=0\)

aus gut gebrauchen. Die Ableitung der Sinusfunktion in \(x_0=0\) ist

\(\sin’( 0)=\lim\limits_{h\to0}\displaystyle\frac{\sin( h)-\sin( 0)}{h-0}=\lim\limits_{h\to0}\displaystyle\frac{\sin( h)}{h}=1\)

Daraus folgt dann mit Hilfe der Additionstheoreme für ein beliebiges \(x_0\)

\( \begin{array}{rcl} \lim\limits_{h\to 0}\displaystyle\frac{\sin( x_0+h)-\sin( x_0)}{h}&=&\lim\limits_{h\to 0}\displaystyle\frac{\cos( x_0)\sin( h)+\sin( x_0)(\cos( h)-1)}{h}\\&=&\cos( x_0)\lim\limits_{h\to 0}\displaystyle\frac{\sin( h)}{h}+\sin( x_0)\lim\limits_{h\to 0}\displaystyle\frac{(\cos( h)-1)}{h}\\&=&\cos( x_0) \end{array} \)



Ganz ähnlich berechnet man für die Cosinusfunktion zunächst in \(x_0=0\)

\(\cos’( 0)=\lim\limits_{h\to0}\displaystyle\frac{\cos( h)-\cos( 0)}{h-0}=\lim\limits_{h\to0}\displaystyle\frac{\cos( h)-1}{h}=0\)


und dann für beliebige \(x_0\)

\( \begin{array}{rcl} \lim\limits_{h\to 0}\displaystyle\frac{\cos( x_0+h)-\cos( x_0)}{h}&=&\lim\limits_{h\to 0}\displaystyle\frac{\cos( x_0)(\cos( h)-1)-\sin(x_0)\sin( h)}{h}\\&=&\cos( x_0)\lim\limits_{h\to0}\displaystyle\frac{(\cos( h)-1)}{h}-\sin( x_0)\lim\limits_{h\to0}\displaystyle\frac{\sin( h)}{h}\\&=&-\sin( x_0) \end{array} \)



Für die Ableitung der Tangensfunktion benutzt man dann die Quotientenregel:

\( \begin{array}{rcl} \left(\tan(x)\right)’&=&\left(\displaystyle\frac{\sin(x)}{\cos(x)}\right)’=\displaystyle\frac{(\sin(x))’\cos(x)-\sin(x)(\cos(x))’}{\cos^2(x)}\\&&\\&=&\displaystyle\frac{\cos^2(x)+\sin^2(x)}{\cos^2(x)}\\&=&\displaystyle\frac{1}{\cos^2(x)} \end{array} \)


Im letzten Schritt könnte man alternativ auch etwas anders umformen:

\(\displaystyle\frac{\cos^2(x)+\sin^2(x)}{\cos^2(x)}=\displaystyle\frac{\cos^2(x)}{\cos^2(x)}+\displaystyle\frac{\sin^2(x)}{\cos^2(x)}=1+\tan^2(x)\)

und erhält so die andere Darstellung.

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Zuletzt geändert: Sonntag, 27. Januar 2019, 21:49