Am 09.07.2021 führte Philipp Dorok mit Michaela Kusal und Sebastian Frassa ein Interview zum Thema Inklusion bei elektronischen Prüfungen. Michaela Kusal leitet das Beratungs­zentrum zur Inklusion Behinderter (BZI) des Akademischen Förderwerks und ist mit ihrem Team unter anderem in der Prozessberatung, Sozialberatung und Studienberatung tätig. Sebastian Frassa ist an der Ruhr-Universität Bochum bei IT.SERVICES für die technische Begleitung des Themas Inklusion zuständig: Die Unterstützung von Nachteilsausgleichen, die Betreuung der barrierefreien Computer-Pools sowie Schulungen für Studierende und Auszubildende zur Barrierefreiheit und zu technischen Hilfsmitteln gehören neben der Beratung zu seinen Hauptaufgaben.

 

Philipp Dorok: Wie können elektronische Prüfungen zu mehr Diversitätsgerechtigkeit und Inklusion beitragen?

Michaela Kusal: Unter Inklusion verstehen wir die Mitnahme und chancengerechte Ansprache von Studierenden mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Elektronische Prüfungen können grundsätzlich eines von vielen Mitteln sein, die beeinträchtigungsbedingte Nachteile und strukturelle Nachteile ausgleichen können. Man darf dabei nicht vergessen, dass überall, wo Licht ist, auch Schatten ist: Mit elektronischen Prüfungen sind neben möglichen Chancen auch Risiken verbunden, und zwar das Schaffen ganz neuer Barrieren, die bisher nicht oder noch nicht in dieser Tragweite da gewesen sind. Während elektronische Prüfungen viele Prozesse vereinfachen und vereinheitlichen können, sind Nachteilsausgleiche immer etwas sehr Individuelles. Ein konkretes Beispiel wäre, dass für Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern längere Pausen während einer Prüfung technisch und organisatorisch abbildbar sein müssen.

Sebastian Frassa: Ich sehe das genauso wie Michaela. Wirklich große Chancen bieten digitale Prüfungen durch die Zeit- und Ortsunabhängigkeit. Da gibt es jetzt durch Online-Prüfungen Möglichkeiten, für die wir vor Jahren noch gekämpft haben. Vor zwei Jahren war es kaum vorstellbar, dass ein behinderter Studierender von zuhause aus in seiner gewohnten Umgebung mit seinen vertrauten digitalen Hilfsmitteln eine Klausur mitschreibt und dabei ein Setting hat, das ihm entgegenkommt.

Michaela Kusal: Durch die Flexibilität, die Sebastian angesprochen hat, sehe ich auch die Chance, dass die Stigmatisierung von Studierenden mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen und insbesondere auch mit nicht sichtbaren Behinderungen und psychischen Erkrankungen abnimmt.

Sebastian Frassa: Man muss dabei allerdings bedenken: Der Zugang zur Technik muss für alle gegeben sein. Du brauchst die Hardware, du brauchst den Internetzugang und musst bei einer Fernprüfung störungsfrei online sein. Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird es für Studierende wirklich problematisch.

Philipp Dorok: Neben der technischen Seite, die du angesprochen hast, sind auch ruhige, störungsfreie Raumverhältnisse für möglichst gute Prüfungsbedingungen bei digitalen Distanz­prüfungen entscheidend. Dieser Faktor kann auch zur Benachteiligung von Studierenden führen. Bei elektronischen Prüfungen in Präsenz in Räumen der Universität sollen die räumlichen und technischen Gegebenheiten für alle Prüflinge vergleichbar sein. Auch hier ist die Sensibilisierung für das Thema Inklusion sehr wichtig. Mit welchen konkreten Herausforderungen bei elektronischen Prüfungen hattet ihr denn in eurer Unterstützungs- und Beratungstätigkeit in letzter Zeit zu tun?

Michaela Kusal: Für Studierende mit Sinnesbeeinträchtigungen ist auch die Prüfungsvor­bereitung mit größerem Aufwand verbunden, zum Beispiel, wenn in der digitalen Lehre Vorlesungsaufzeichnungen nicht untertitelt sind. Nur die barrierefrei umgesetzte digitale Prüfung reicht aus meiner Sicht nicht aus, denn die Prüfungsvorbereitung findet bereits in der Lehre statt. Es kann auch problematisch für die Bearbeitung von digitalen Prüfungen sein, wenn Studierende ihre vertraute Software nicht nutzen können. Das wäre, als wenn man einem Rechtshänder sagt: „Diese Klausur schreibst Du jetzt bitte mit Links in derselben Zeit und genauso leserlich.“ Das kann nicht funktionieren.

Sebastian Frassa: Ich finde diesen Gedanken der Verzahnung von Prüfung und Lehre sehr gut. Auch ein Nachteilsausgleich sollte nicht erst kurz vor der Klausur beantragt werden, sondern sowohl Lehrende als auch Studierende sollten sich sehr früh mit dem Thema beschäftigen. Die Zeitkomponente macht das kurzfristige Bereitstellen von spezifischen Lösungen unglaublich viel schwieriger. Zu verzeichnen ist definitiv, dass auf Seite der Lehrenden mehr Sensibilisierung für das Thema Nachteilsausgleiche passieren muss. Personen mit Teilleistungsstörungen haben oft auch Probleme mit der Strukturierung von digitalen Prüfungen in einem festen zeitlichen Raster, weil zum Beispiel individualisierte Pausen notwendig sind, die nicht im Vorhinein bezifferbar sind. Wenn jemand mit Herzfehler sich während der Prüfung eine Stunde hinlegen muss oder Studierende mit Asperger-Syndrom oder ADHS zwischendurch Entspannungstrainings benötigen, dann muss dafür Raum sein. Hier sind Kommunikation, Beratung und Unterstützung enorm wichtig.

Michaela Kusal: Das würde ich gerne ergänzen. Auch die Vernetzung der zentralen Beratungsstellen ist dabei äußerst wichtig: Wenn Lehrende zum Beispiel für spezifische Bedarfe angemessene elektronische Prüfungen oder Prüfungsfragen erstellen wollen, sind gemeinsame Beratungen mit uns, dem eAssessment-Team und der Hochschuldidaktik zielführend, da wir alle über unterschiedliches Fachwissen verfügen, und alle Beteiligten können voneinander lernen. Auch die Rückmeldungen von Studierenden zur Barrierefreiheit ihrer Prüfungen sind eine wertvolle Ressource.

Philipp Dorok: Gibt es noch weitere Aspekte, die ihr im Bezug auf Inklusion und elektronische Prüfungen nennen möchtet?

Michaela Kusal: Die Hochschulen als Institutionen sind in der Pflicht, Inklusion mitzudenken: Das kann zum Beispiel Software-Anschaffungen betreffen oder didaktische Fortbildungen und Unterstützungsangebote. Inklusion kostet Geld und menschliche Arbeitszeit. Hochschulen müssen sich fragen: In welcher Form wird die Umsetzung von Inklusion, zum Beispiel technisch, didaktisch oder methodisch, als strukturelles Element mitgedacht? Ich erwarte, dass die Selbstver­pflichtung im Bereich Inklusion übernommen, mitgegangen und gelebt wird und die gesetzlichen Vorgaben erfüllt werden. Konkret könnten zum Beispiel Stellen eingerichtet werden, die elektronische Prüfungsfragen auf Barrierefreiheit hin überprüfen.

Sebastian Frassa: Ich würde gerne noch den Blick nach vorne wagen: Neue Entwicklungen in der Computerlinguistik, Sensorik und KI, zum Beispiel Verbesserungen von automatischen Transkriptionen, Text-to-Speech-Technologien und Eingabehilfen sind auch für die Inklusion bei elektronischen Prüfungen und in der digitalen Lehre relevant. Aus meiner Sicht benötigen wir Stellen, die diese Innovationen im Blick haben und mit Behindertenvertretungen im Kontakt sind. Die Sensibilisierung ist der Anfang und wir müssen alle Beteiligten mitnehmen.

最終更新日時: 2022年 12月 16日(金曜日) 12:48