Zum Einstieg gab es einen Ausschnitt aus dem mittelniederdeutschen (mnd.) »Sachsenspiegel«, einem Rechtsbuch, das etwa in den 1230er Jahren entstanden ist. Mnd. wurde nördlich der sogenannten Benrather Linie gesprochen und es unterscheidet sich vom Mhd. insbesondere aufgrund einiger Veränderungen im Bereich der konsonantischen Laute. Das Mnd. hat nämlich einige Lautveränderungen nicht mitgemacht, die das Mhd. mitgemacht hat (Stichwort: »Zweite Lautverschiebung« bzw. »Zweite Konsonantenverschiebung« – darauf kommen wir noch zu sprechen). Man sieht das an Worten wie »strâte« (nhd. »Straße«), »îdel« (nhd. »eitel«), »wîke« (nhd. »weiche«), »op« (nhd. »auf«). Außerdem haben wir gelernt, dass der, der zuerst zur Mühle kommt, zuerst mahlen darf...

Ganz vergessen hatten wir in der ersten Woche, über die Metrik des »Nibelungenlieds« zu sprechen. Im Gegensatz zu den höfischen Romanen (z.B. dem »Parzival« Wolframs von Eschenbach, dem »Titurel« Gottfrieds von Straßburg oder dem »Iwein« Hartmanns von Aue), die in vierhebigen, alternierenden Reimpaarversen geschrieben wurden, ist das »Nibelungenlied« in Strophen zu vier Versen abgefasst. Jeder dieser Verse ist durch eine Zäsur in einen An- und einen Abvers geteilt. Der Anvers hat vier Hebungen (mit einer zweisilbigen Betonung am Versschluss); die ersten drei Abverse haben drei Hebungen und eine Pause am Schluss. Der vierte Abvers schließlich füllt die Pause mit einer weiteren Hebung. Es reimen jeweils Vers 1 mit Vers 2 sowie Vers 3 mit Vers 4.*

Zwei wichtige Online-Ressourcen sollten Sie kennen: Der »Handschriftencensus« sammelt Informationen zu allen mittelalterlichen deutschsprachigen Textzeugen (und über den Handschriftencensus finden Sie auch die Digitalisate von Handschriften und Forschungsliteratur zu den Handschriften). Außerdem hatten wir einen kurzen Blick geworfen auf die online-Versionen** der mittelhochdeutschen Wörterbücher: BMZ (Benecke-Müller-Zarncke) und Lexer (Handwörterbuch von Mathias Lexer) stammen aus dem 19. Jahrhundert, sind bis auf Weiteres aber immer noch sehr wichtig. Der BMZ ist älter und umfassender; der Lexer ist etwas jünger, etwas konzentrierter (und kennt manchen Text, den die Verfasser des BMZ noch nicht kannten). Ich persönlich suche im Regelfall zuerst im Lexer (und das reicht mir meist). Außerdem gibt es auch ein neues mittelhochdeutsches Wörterbuch – allerdings ist das erst beim Buchstaben H angelangt. Bis dieses Wörterbuch fertig sein wird, das wird noch dauern...

Die Arbeit an Walthers*** von der Vogelweide »Ir sult sprechen willekomen« hat uns neue Wörter beigebracht, hat uns schon ein wenig über die Frage des »richtigen« Übersetzens nachdenken lassen – und wir haben ein paar »falsche Freunde« kennengelernt. Außerdem konnten wir uns am sehr selbstbewussten Auftritt der Sprechinstanz erfreuen – und uns über die etwas nationalistische dritte Strophe wundern. Ach ja: Außerdem konnten wir über Hierarchien zwischen der Sprechinstanz und der höfischen Dame nachdenken.

Je besser wir über die Lautveränderungen vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen Bescheid wissen, desto leichter fällt es uns, Mittelhochdeutsche Texte zu verstehen. Dies gilt für Veränderungen im Bereich des Konsonantismus (Stichwort »Lautverschiebung«); dies gilt aber ebenso für Veränderungen im Bereich des Vokalismus. Hervorzuheben sind hierbei die Monophthongierung und die Diphthongierung. Bei der Monophthongierung werden Diphthonge zu Monophthongen: mhd. lieber müeder bruoder wird (wenn man nicht gerade in Bayern oder im alemannischen Raum lebt) zu nhd. lieber müder Bruder. Bei der Diphthongierung werden Monophthonge zu Diphthongen: mhd. mîn niuwes hûs wird zu nhd. mein neues Haus

Weitere Veränderungen im Vokalismus lassen sich gut anhand des »Vokaldreiecks« nachvollziehen, einer (vereinfachten) schematischen Darstellung des Artikulationsorts der Vokale im Mundraum. Bei der »Senkung« wird der Artikulationsort nach unten verschoben (mhd. sunne zu nhd. Sonne)*; bei der »Hebung« wird der Artikulationsort nach unten verschoben (mhd. mâne zu nhd. Mond). Es gibt auch noch »Dehnung«, »Kürzung«, »Rundung« und »Entrundung« – aber die vorher beschriebenen Phänomene sind die wichtigsten. 

Nächste Woche werden wir uns den Ausschnitt aus dem »Schwabenspiegel« ansehen.


Vokabeln (beachten Sie auch die »falschen Freunde«)

mhd. iht = etwas (vgl. die Verneinung: mhd »niht« = »nicht etwas«, nichts)

mhd. miete = Lohn

mhd. ein wint = unwichtig, nichtig, schnell vergänglich u.ä., vgl. https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=W03540

mhd. dar = dahin/dorthin

mhd. gevüege = artig, fügsam 


* Die Programmstrophe in C (also: die erste Strophe) ist besonders kunstvoll gebaut und hat deshalb zusätzlich Binnenreime...

** BMZ und Lexer gibt es natürlich auch gedruckt. Sollten Sie irgendwann einmal den gedruckten BMZ in der Hand haben, dann bitte Vorsicht: das Lexikon ist nicht alphabetisch geordnet, sondern nach Wortwurzeln... 

*** Das Genitiv-s wird üblicherweise dem »eigentlichen« Namen angefügt, z.B. »der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg«. Nachnamen, wie wir sie kennen, entwickeln sich erst im Spätmittelalter. Hochmittelalterliche Zunamen sind oft Herkunftsbezeichnungen; im Fall Walthers von der Vogelweide könnte es sich um eine Art Künstlernamen handeln (dass sich ein Sänger mit [»singenden«] Vögeln auf einer Wiese in Verbindung bringt, liegt durchaus nahe). 

**** Das gilt nicht für die oberfränkische Heimat des Dozenten: oberfränkisch die sunna hott g'schina heißt im Standarddeutschen Die Sonne hat geschienen (bzw.: Es schien die Sonne).


Zuletzt geändert: Freitag, 25. März 2022, 12:39