Wir haben uns die erste Seite der Handschrift C des »Nibelungenlieds« angesehen und versucht, die Worte zu entziffern. Es gibt eine (Zier-)Initiale und eine Überschrift: »Aventiure von den Nibelungen«. Das mittelhochdeutsche (mhd.) Wort »âventiure« ist ein französisches Lehnwort, das auf das Lateinische »adventus« zurückgeht. Gemeint ist das, was auf einen zukommt, das »Abenteuer«, das ein Ritter zu bestehen hat. Gesehen haben wir, dass es in der Handschrift Abkürzungen gibt (ein Haken für »er« und Nasalstriche, die für <n> oder <m> stehen). Die Auslautverhärtung wird im Mhd. oft verschriftlicht (z.B. »wîp«) Außerdem gibt es als einziges Interpunktionszeichen Punkte, die die Verse voneinander abgrenzen. Großschreibung ist selten; es gibt sie bei Namen und am Beginn von Strophen.

Für die Aussprache gilt grundsätzlich: Alle Buchstaben werden auch gesprochen. <h> ist deshalb nie Dehnungszeichen, sondern entweder Hauchlaut oder Reibelaut. Auch das <e> wird stets gesprochen und dient nicht der Dehnung. In Editionen werden Vokale, die lang gesprochen werden, oft mit Zirkumflex markiert. <iu> ist Umlaut, nämlich ein langes /ü/. Die Ligatur <æ> ist ein langes /ä/. Das <z> ist manchmal /s/ (mhd. »wazzer«) und manchmal Affrikate /ts/, z.B. mhd. »gezam«. – Mitunter versteht man mhd. Texte leichter, wenn man sie laut spricht...

Es gibt – nächste Woche wird das genauer erläutert – zwei wichtige Vokalveränderungen, die vom Mhd. zum Neuhochdeutschen (Nhd.) führen, die »Monophthongierung« und die »Diphthongierung«. Bei der Diphthongierung werden lange Vokale zu Diphthongen (also zu Zweilauten). Aus mhd. »wîp« wird nhd. »Weib«, aus »lîp« wird »Leib«, aus »zît« wird »Zeit«, aus »rîch« wird »reich« usw. Das Alemannische im Bereich der heutigen Schweiz hat weder die Diphthongierung noch die Monophthongierung mitgemacht, deshalb tun sich Schweizer*innen beim Umgang mit mhd. Texten oft leichter.

Der Begriff »Mittelhochdeutsch« besteht aus drei Teilen. »deutsch« meint die Sprache, wobei das Deutsche zu den germanischen Sprachen gehört, die wiederum zu den Indoeuropäischen Sprachen gehören. »hoch« ist eine geographische Bezeichnung. Unterschieden wird zwischen dem Hoch- und dem Niederdeutschen. Die Linie, die die beiden Sprachgebiete trennt(e), heißt übrigens »Benrather Linie«. Das Hochdeutsche gliedert sich weiter in einen Mittel- und einen Oberdeutschen Raum – und die gliedern sich dann weiter in verschiedene Dialektgebiete. »mittel« meint die Sprachstufe. Meist unterscheidet man zwischen Alt- (750-1050), Mittel- (1050-1350), Frühneu- (1350-1650) und Neuhochdeutsch (seit 1650). Versuchen Sie sich zu merken, dass es Mitte des 8. Jahrhunderts los geht (denn die ältesten bis heute erhaltenen Handschriften mit deutschsprachigen Texten stammen aus der Mitte des 8. Jahrhunderts) – und dann geht es jeweils in Schritten zu 300 Jahren weiter.


Vokabeln

mhd. lîp = Leib/Körper, Leben, Person

mhd. vrouwe/frouwe = Dame, Herrin (vgl. althochdeutsch »vro« = »Herr«, heute noch im Wort Fronleichnam [= »Leichnam des Herrn«])

mhd. maget/meit = junge Frau, Jungfrau

mhd. wîp = Frau (allgemeine Geschlechtsbezeichnung)

mhd. minne = Liebe

mhd. mugen = können (vgl. »vermögen«); in der Lage sein, etwas zu tun

mhd. mære = Erzählung, Bericht, Neuigkeit (vgl. »Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich bring’ euch gute neue Mär […]«)

mhd. lobebære = lobenswert

mhd. ar(e)beit = Mühe, Mühsal, Qual

mhd. tugent = Vortrefflichkeit jeder Art (z.B. Sittsamkeit, Tapferkeit, Tüchtigkeit)

mhd. muot = Wollen, Sinn, Stimmung, Gesinnung (vgl. nhd. »Gemüt)

mhd. muoten = etw. haben wollen, begehren, verlangen; Zuneigung haben zu etw.

mhd. triuten = lieb haben, lieben, liebkosen, umarmen

Zuletzt geändert: Freitag, 25. März 2022, 12:36