Hausarbeiten schreiben, im Labor stehen oder Tutorien leiten – manchmal merkt man im Studium schon, dass das Forschen und das Lehren und Lernen so viel Freude bereitet, dass der Gedanke aufkommt: Eigentlich will ich nicht mehr weg von der UniversitĂ€t!

Die akademische Laufbahn beginnt mit dem Bachelorstudium und endet im besten Fall mit der Berufung auf eine Professur. Die vielen Qualifizierungsschritte dazwischen - Master, Promotion und Habilitation, die Anstellung als wissenschaftliche Hilfskraft und spĂ€ter als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in - erfordern ein immenses Durchhaltevermögen und eine gute Portion GlĂŒck aufgrund der meist prekĂ€ren VerhĂ€ltnisse durch AbhĂ€ngigkeiten von Drittmittel-AntrĂ€gen, der befristeten Stellen und der AbhĂ€ngigkeit von Beziehungen und Netzwerken. Auf Twitter teilen derzeit viele Betroffene, wie es ihnen im Wissenschaftsbetrieb geht oder ergangen ist: #IchBinHanna #IchBinReyhan #ACertainDegreeOfFlexibility

Wer letztendlich auf den akademischen Spitzenpositionen, bspw. der Lebenszeit-Professur, sitzen darf, hÀngt jedoch von wesentlich mehr Faktoren ab als von der eigenen Leistung.
Obwohl in NRW die Studierendenschaft nach Geschlecht fast paritĂ€tisch aufgeteilt ist und sogar mehr Frauen als MĂ€nner das Bachelorstudium abschließen, besetzen nur ein Viertel, um genau zu sein 25,2 %, Frauen eine Professur.
Dieses PhĂ€nomen nennt sich in der Wissenschaft Leaky Pipeline und wurde 1983 von Sue E. Berryman in ihrer Studie „Who will do Science?“ geprĂ€gt.

Die Leaky Pipeline in NRW in Zahlen:

  • Studierende: MĂ€nner 52,7 % und Frauen 47,3 % 
  • Absolvent*innen: 48,5 % MĂ€nner und 51,5 % Frauen
  • Promovierte: 56,5 % MĂ€nner und 43,4 % Frauen 
  • Habilitierte: 72,4 % MĂ€nner und 27,6 % Frauen
  • Professor*innen: 74,8 % MĂ€nner und 25,2 % Frauen 
  • W3-Professuren (mit Lehrstuhl): 76,5 % MĂ€nner und 23,5 % Frauen

Die Leaky Pipeline im Detail:
Schon bei den Absolvent*innen tut sich die erste LĂŒcke auf: Im VerhĂ€ltnis machen zwar mehr Frauen einen Bachelorabschluss, aber den Master schließen bereits mehr MĂ€nner ab (MĂ€nner: 51,9 %/Frauen: 48, 1%). Und ab da geht die Schere immer weiter auseinander. Rechnet man zum Beispiel UniversitĂ€ten mit Klinikum und Hochschulmedizin als Fach raus, liegt die Quote der promovierten Frauen nur noch bei ca. 30 %.
Besonders in der sogenannten Post-Doc-Phase verlassen viele Frauen die Wissenschaft.

Lediglich bei den im Jahr 2002 eingefĂŒhrten Juniorprofessuren lĂ€sst sich eine geschlechtergerechtere Berufungsquote feststellen (43,2 % Frauen bundesweit). Juniorprofessor*innen können ohne Habilitation berufen werden, um bereits nach der Promotion unabhĂ€ngig zu forschen, und sparen sich damit eine weitere Qualifizierungsphase. Auch diese Stellen sind jedoch oft befristet und ohne Tenure-Track und damit nicht zwingend auf Entfristung ausgelegt. Die berufliche Zukunft bleibt also unsicher.

Auch wenn man verschiedene FÀcher betrachtet, ist eines besonders auffÀllig: Der Unterschied zwischen einer nahezu paritÀtischen Aufteilung nach (binÀr gedachtem) Geschlecht innerhalb der Studierendenschaft und die Zahl der Frauen, die am Ende eine Professur besetzen.
In den Geisteswissenschaften, den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und in der Humanmedizin bzw. den Gesundheitswissenschaften gibt es sogar weitaus mehr als 50 % weibliche Studierende. In keinem dieser FĂ€cher gibt es annĂ€hernd so viele weibliche Professorinnen. Den grĂ¶ĂŸten Gap gibt es im Fach Humanmedizin, in dem zwar 66,8 % der Studierenden und 60,1 % der Promovierenden weiblich sind, letztendlich jedoch nur 20,9 % der Professuren von Frauen besetzt sind. Ausgenommen von dieser Form des Gender Gaps sind allein die Ingenieurwissenschaften, in denen es insgesamt nur wenig weibliche Studierende gibt (ca. ein FĂŒnftel).


Zusammenfassend lÀsst sich feststellen: Je höher die Hierarchieebene in der Wissenschaft, umso weniger Frauen finden sich dort. Aber woran liegt das?
Die sogenannte Qualifikationsphase in der Wissenschaft ist oft ungemein prekĂ€r und unsicher und fĂ€llt oft mit der Phase der Familienplanung zusammen. In Deutschland wird der grĂ¶ĂŸte Teil der unbezahlten Sorgearbeit immer noch von Frauen getragen, d. h., sie kĂŒmmern sich in der Regel mehr um Kinder, nehmen lĂ€nger Elternzeit und arbeiten danach oft Teilzeit oder pflegen bedĂŒrftige Verwandte. Die Wissenschaft sieht jedoch keine TeilzeitbeschĂ€ftigung fĂŒr Professuren vor, wenn es um Care-Arbeit geht. Nebenbei beispielsweise ein ArchitekturbĂŒro zu leiten und deswegen in Teilzeit eine Professur zu besetzen, ist allerdings durchaus ĂŒblich. Auch wenn in den einzelnen Qualifizierungsschritten als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in die meisten Stellen nur auf 50 % ausgelegt sind, liegt der Anspruch und die eigentliche Arbeitszeit meistens trotzdem bei 100 %.
Damit werden Frauen vor die Wahl gestellt: Wissenschaft oder Sicherheit bei der Familienplanung?


Dazu kommt die Problematik, dass Hochschulstrukturen und der Wissenschaftsbetrieb mĂ€nnlich und weiß dominiert sind.
Dies spiegelt sich auch in den Personalentscheidungen wider: Menschen neigen dazu, eher Menschen einzustellen, die ihnen Ă€hnlich sind. Wenn also aufgrund von althergebrachten gesellschaftlichen VerhĂ€ltnissen ein Großteil der Stellen auf Lebenszeit von weißen MĂ€nnern besetzt sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese ebenfalls weiße MĂ€nner einstellen und weiterempfehlen. Diesen Effekt nennt man homosoziale Kooptation. Die Ungleichheiten des Systems reproduzieren sich damit selbst. Weniger Frauen werden berufen, weniger Frauen sitzen in den entscheidenden Gremien.
Dasselbe gilt fĂŒr Menschen mit Behinderung, fĂŒr People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte, fĂŒr queere Menschen und fĂŒr Kinder aus Arbeiter*innenfamilien. Die Wissenschaft als Arbeitswelt ist bisher ein ausschließendes System.

Was ist mit Gewalt?
Dass es in starken AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnissen schneller zu Machtmissbrauch und damit zu rassistischer oder sexualisierter Gewalt kommt, ist kein Geheimnis (hierzu ein Info-Text von Unser Campus). Gleichzeitig ist es stark tabuisiert, als Betroffene*r Erfahrungen öffentlich anzusprechen oder sich gar zu beschweren, da ansonsten die Aussicht auf eine weitere Vertragsanstellung in der Befristungskette gefĂ€hrdet ist. Sexistische und rassistische Vorurteile machen auch vor der Uni keinen Halt, sodass sich mehrfach diskriminierte Menschen in der Wissenschaft einer besonders starken Belastung aussetzen mĂŒssen (hier zu insbesondere #IchBinReyhan).

Neben Gleichstellungsmaßnahmen an Hochschulen brĂ€uchte es auch tiefergehende Diversity-Maßnahmen, von denen in der Wissenschaft
nicht nur weiße Frauen profitieren, sondern im Besonderen People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte.
Durch das Fehlen marginalisierter Personengruppen in der Wissenschaft und an den Hochschulen entsteht eine Leerstelle, die nicht nur die Gegenwart beeinflusst, sondern auch zukĂŒnftige Forschung und Lehre und damit die zukĂŒnftige Gesellschaft. Ohne Vorbilder ist es fĂŒr nachfolgende Generationen schwieriger, sich einen eigenen Platz an der Hochschule vorzustellen. Zudem werden damit Forschungsperspektiven ausgeblendet, die sich nicht als mĂ€nnlich und weiß positionieren.
Auch hier ist zu betonen: Die UnterreprÀsentation queerer Menschen, Menschen mit Behinderung und Kindern aus Arbeiter*innenfamilien bestÀrkt diese Leerstelle um ein Vielfaches!


Es gibt also viel zu tun!



Hier einige Gleichstellungsmaßnahmen der RUB:


[Die Zahlen beziehen sich auf den Gender Report 2019, der mit Zahlen aus dem Jahr 2017 arbeitet. Alle drei Jahre wird der Gender Report neu veröffentlicht, der nÀchste steht im Jahr 2022 an.]


Verfasst von Alina Adrian.