Lektion 2 - Das Motiv des leidenden Gerechten

Psalmgebet und Passionsgeschichte

Markus zeichnet in der Passionsgeschichte Jesus als leidenden Gerechten – mit Ps 22 im Hintergrund (
Mk 15,34). 

Matthäus ist ihm darin gefolgt (Mt 27,46). Lukas hat variiert, indem er Ps 31,6 als Todesgebet Jesu darstellt (Lk 23,46). Neben der Passionsgeschichte ist es vor allem das „Muss“ des Leidens Jesu, das sich im Horizont des Geschicks vom leidenden Gerechten erklärt (Mk 8,31parr.; Lk 24,26). Das Alte Testament zeichnet in den Psalmen (Ps 22; 31; 34; 69; 140) und Weisheitsbüchern (Weish 2,12-20) in der Figur des leidenden Gerechten einen ebenso irritierenden wie charakteristischen Urtyp: eines Menschen, der leidet, weil er in einer ungerechten Welt gerecht ist, aber in seiner Qual nicht von Gott lässt – und schließlich auch von Gott gerettet wird.


Ps 22[1]zeichnet einen langen spirituellen Weg von der Klage der Gottesverlassenheit (Ps 22,1-19) ĂĽber die Bitte (Ps 22,20ff.) zum Lob ob der erfahrenen Hilfe (Ps 22,23-32).       
Ă„hnlich ist Ps 69 aufgebaut: Klage (Ps 69,1-13) – Bitte (Ps 69,14-19) – Dank (Ps 69,33-37), allerdings nicht ohne den Schrei nach Rache (Ps 69,20-32). Ps 31 und 34 bringen wie Ps 140 ein angefochtenes, aber durchgehaltenes Gottvertrauen zum Ausdruck. 

Weish 2,12-20 (vgl. 5,1-5) lässt die Spötter zu Wort kommen, die nichts auf Gott geben und deshalb auch den Menschen verraten; sie wollen dadurch, dass sie den Gerechten quälen, zeigen, dass er kein Liebling, kein „Sohn“ Gottes ist. 

Die Figur des Leidenden Gerechten beantwortet nicht die Theodizeefrage[2], aber hält dafĂĽr, dass es ein richtiges Leben mitten im falschen gibt: kein glĂĽckliches, aber ein geglĂĽcktes, weil das Gottvertrauen zwar aufs äuĂźerste herausgefordert wird angesichts unschuldigen Leidens, aber auch bewährt werden kann. 

Jesus hat in den Seligpreisungen (Lk 6,20-23 par. Mt 5,3-12)[3]seinen JĂĽngern die Verfolgung um Gottes willen prophezeit, aber verheiĂźen, dass Gott unverrĂĽckbar auf der Seite der Gerechten steht. Jesus selbst hat in Gethsemane in Todesnot gebetet, wie ein Gerechter nur beten kann (Mk 14,32-42 parr.)[4]. Dieses Gebet kann zwar kein O-Ton Jesu sein, ist aber genau auf das Vaterunser abgestimmt und fängt insofern ein, dass Jesus sich als Gerechter Gott anvertraut hat, in der Erwartung dessen, was auf ihn zukommen sollte. 

Markus hat die Kreuzigung Jesu in den Farben von Ps 22 dargestellt.

Mk 15,24

Sie verteilten seine Kleider, indem sie das Los über sie warfen, wer was nähme.

Ps 22,19

Mk 15,29

Sie schüttelten ihre Köpfe …

Ps 22,8

Mk 15,32

Die mit ihm Gekreuzigten schmähten ihn.

Ps 69,10

Mk 15,34

„Eloi, Eloi, lema sabachthani“

Ps 22,2

Mk 15,36

Einer lief herbei, füllte einen Schwamm mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr, um ihm zu trinken zu geben, …

Ps 69,22


Ps 22 wird von rĂĽckwärts nach vorwärts eingespielt: Während das alttestamentliche Gebet vom Klageschrei ausgeht, um dann Schritt fĂĽr Schritt den Abgrund der Gottverlassenheit freizulegen (Ps 22,2-19), bevor es zum Guten sich wendet, zur Rettung des Verlorenen (Ps 22,20ff.23-32), notiert die Passionsgeschichte mit Hilfe des Psalms, den es nur im ersten Teil, der Klage, aufnimmt, demĂĽtigende Details der Hinrichtung: die Verteilung der Kleider (Mk 15,24 – Ps 22,19) und die Lästerungen (Mk 15,29 – Ps 22,8), um dann aber Jesus das Wort zu geben: Der erste Gebetsvers von Ps 22 ist sein letztes Wort (Mk 15,34), das auch noch einmal verdreht werden wird (Mk 15,35), bevor einer der Umstehenden seine Todesqual durch eine zynische Form von Mildtätigkeit verlängern will (Mk 15,36 – Ps 69,22). 

Lukas hat durch den Wechsel zu Ps 31 unterstrichen, dass Jesus sich am Ende mit seinem Tod versöhnt hat und deshalb auch am Kreuz versöhnen kann, die ohne ihn unversöhnt sterben wĂĽrden: die Henker (Lk 23,34) und den Schächer zur Rechten (Lk 23,43), auch den heidnischen Hauptmann (Lk 23,47). 


Das „Muss“ des Leidens ist in der Sprache der Bibel nicht Ausdruck eines göttlichen Diktates, dem Jesus sich beugt, gar einer Forderung Gottes, die Jesus erfüllen muss, sondern die Aufdeckung eines paradoxen Zusammenhanges: In einer ungerechten Welt „muss“ der Gerechte leiden, sonst wäre er nicht gerecht. Gerade dieses Leiden erweist seine Gerechtigkeit – so wie die Auferstehung dann die Gerechtigkeit Gottes erweist.

 

Die theologische Pointe: 

Der Gerechte leidet wegen seiner Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt. In aller Not hält er, klagend, an seinem Gott fest. Gott lässt seinen Gerechten nicht zuschanden werden, sondern rettet ihn.

Durch das Motiv des leidenden Gerechten kann dreierlei gezeigt werden:

  • Jesus, obgleich verurteilt, ist unschuldig und gerecht. 
  • Jesus leidet, weil seine Verfolger schuldig sind. 
  • Jesu Auferweckung erweist sich als Rechtfertigung des Gerechten.

Der leidende Gerechte nimmt das Leiden an – in der Hoffnung wider Hoffnung, dass Gott es zum Guten wendet. 




[1]Vgl. D. Sänger (Hg.), Ps 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien (BThSt 88), Neukirchen-Vluyn 2007.

[2]Vgl. Th. Söding, â€žIst Gott etwa ungerecht?“ (Röm 3,5). Die Theodizeefrage im Neuen Testament, in: Michael Böhnke u.a., Leid erfahren – Sinn suchen. Das Problem der Theodizee (Theologische Module 1), Freiburg - Basel - Wien 2007, 50-68.

[3]Vgl. Th. Söding, Die VerkĂĽndigung Jesu – Ereignis und Erinnerung, Freiburg - Basel - Wien 22012, 185-220. 

[4]Vgl. R. Feldmeier, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemane-Erzählung als SchlĂĽssel der Markuspassion (WUNT II/21), TĂĽbingen 1987.


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