Lektion 4 - Das Motiv der Sühne (Seite 2)

Paulus scheint der erste, der explizit diese Sühnetheologie durch die Christologie transformiert. Er könnte allerdings in Röm 3,25 (zum gesamten Römerbrief vgl. hier) traditionelle Motive aufnehmen. Er denkt in erster Linie typologisch: Jesus ist der Ort eschatologischer Vergebung, weil er der Ort eschatologischer Gottesgegenwart ist. Paulus identifiziert Jesus aber nicht nur als Ort der Sühne, sondern interpretiert ihn auch dreifach: 

  • „Durch den Glauben“ nennt den anthropologisch-soteriologischen Aspekt: Es ist der rechtfertigende Glaube, durch den die Sühnewirkung vermittelt wird.
  • „In seinem Blut“ nennt den christologisch-soteriologischen Aspekt: Es ist der Gekreuzigte in der Hingabe seines Lebens, durch den Gott Sühne schafft. Die nächste Parallele ist die Herrenmahlstradition (1Kor, 11,23ff: „Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut“). 
  • „Zum Erweis seiner Gerechtigkeit“ nennt das Ziel des Geschehens und lenkt zum Subjekt des Satzes zurück. Gott, der seine Gerechtigkeit durch Jesu Kreuzestoderwiesenhat, offenbart dies im Evangelium.

Durch diese Kontextualisierung gelingt Paulus die Personalisierung der Sühnetheologie, ohne die sie keine Glaubensfrage wäre. Der Hebräerbrief arbeitet die paulinische Kulttheologie aus, indem er die Humanität und Theozentrik des Heilsdienstes Jesu mit alttestamentlichen Bausteinen rekonstruiert. Der Erste Johannesbrief setzt alles auf die Liebe – und deutet die Sühne als Erweis der Größe, die diese Liebe in einer Welt des Unheils hat. Liebe kostet. Das schreckt Jesus nicht ab. 

Die theologische Leistungsfähigkeit der Sühnetheologie besteht darin, dass sie die Heilsbedeutung des Todes explizit qualifiziert. Sie gewinnt dem Tod selbst eine positive Bedeutung ab – nicht jenseits des Unrechts und der Unsinnigkeit, aber inmitten ihrer. Es gäbe diese Heilsbedeutung nicht, wenn Jesus von Gott gezwungen worden wäre, am Kreuz zu sterben. Er ist aber freiwillig in den Tod gegangen: als prophetischer Märtyrer, der wie der leidende Gottesknecht Gott gebeten hat, die Schuldigen nicht zu bestrafen, sondern zu begnadigen. Der Sühnetod kann deshalb nur in Verbindung mit den anderen Deutungsmotiven erschlossen werden. Ihnen gegenüber macht er klar, dass der Tod nicht nur der Preis ist, den Jesus um der Treue zu seiner Sendung willen zu zahlen bereit ist, sondern selbst ein Mittel des Heiles ist. Die Unschuld und Gewaltlosigkeit Jesu sind die entscheidende anthropologische und zugleich christologische Voraussetzung. Die archaische Vorstellung ist, dass durch das Vergießen unschuldigen Blutes die tödliche Macht der Sünde nicht unsichtbar, sondern sichtbar gemacht wird. Das Opfer wird zum Retter – und befreit deshalb alle Opfer davon, nur Opfer zu sein. Es gibt keine Versöhnung ohne die Zustimmung der Opfer. Jesus, der Sohn Gottes, antizipiert diese Zustimmung – die gegeben sein muss, wenn es eine eschatologische Heilsvollendung geben soll. Wie sie sich in der Zeit realisiert, ist eine Frage des Glaubens; wie sie sich im Reich Gottes realisiert, eine Frage der göttlichen Barmherzigkeit und der menschlichen Teilhabe am Heilsgeheimnis Gottes.



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