Lektion 1 - Der verfolgte Prophet (Seite 2)

Die Gerichtsrede

Das Motiv gehört in die Gerichtsrede Jesu. Ein prägnantes Beispiel geht auf die Logienquelle zurück (Mt 23,37ff. par. Lk 13,34f.)[1]. Es ist mit der Tempelprophetie Jesu und der Rezeption von Ps 118 verknüpft, die sowohl beim Einzug Jesu in Jerusalem (Mk 11,1-11 parr.) als auch bei der Ausdeutung des Winzergleichnisses (Mk 12,10ff. parr.) einen starken Anknüpfungspunkt in der Jesustradition hat.[2]

Jesus macht sich die geschichtliche Erfahrung der verfolgten Propheten zu eigen; er stellt sich selbst in die Reihe. Jesus stellt sich im Gewand der Weisheit dar, die nach Israel kommt, aber abgelehnt wird.

Im Alten Testament und frühen Judentum gibt es zwei Linien:

Nach der einen Variante führt die Ablehnung der Weisheit in der Welt zu einer Intensivierung ihrer Gegenwart: Sie verdichtet sich in der Tora. Auf diese Weise wird Israels Erwählung inmitten der Völker betont und die Pflicht zum Gesetzesgehorsam innerhalb der Juden (Sir 24; Bar 3,27 - 4,4). 

Nach der anderen, der apokalyptischen Variante, zieht sich die Weisheit wegen der hartnäckigen Sünde auch der Israeliten auch aus Jerusalem zurück (äthHen 42,1f , vgl. auch WiBiLex Artikel: Henochliteratur); es bleibt nur das Gericht.

In der Logienquelle werden die Linien verknüpft und weitergeführt, weil mit Jesus ein Lehrer der Weisheit die Szene betritt, der ein Prophet ist und mit seinem Leiden für das heilstiftende Wort Gottes eintritt.

Jesus kündigt als Gericht Gottes die Zerstörung des Tempels an (vgl. Mk 13,1ff. parr. u.ö.). Jesus prophezeit aber auch, dass es eine Zukunft Israels jenseits der Tempelzerstörung gibt. Sie ist darin begründet, dass der Messias – und mit ihm Jesus – nach wie vor im Kommen ist. Die positive Wendung ist durch Ps 118 vorgezeichnet. Sie kann – Mt 23 ist besonders deutlich – nicht schon im „Hosanna“ des Einzugs Jesu aufgehen, dem ja das „Kreuzige ihn“ folgte, sondern muss ein zweites Kommen und eine endgültige Bejahung des Propheten umfassen. 

Das Gerichtswort ist deshalb ein paradoxes Heilswort: Es gibt kein Heil ohne Gericht; aber das Gericht gibt es um des Heiles willen.[3]



[1]Vgl. Th. Söding,Jesus und die Kirche. Was sagt das Neue Testament?, Freiburg - Basel - Wien 2007, 118ff.

[2]Die Päpstliche Bibelkommission hat sie in ihrer Schrift „Das jüdische Volk und seine eilige Schrift im Lichte der christlichen Bibel“ 24. Mai 2001 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 152, Bonn 2002) sorgfältig gesammelt und bonam parteminterpretiert.

[3]Vgl. Helmut Merklein, Gericht und Heil. Zur heilsamen Funktion des Gerichts bei Johannes dem Täufer, Jesus und Paulus (1990), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 60-81.


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