Lektion 4 - Das Motiv der Sühne (Seite 1)

Tempelkult und Opfertod

Das Sühnemotiv ist theologisch schwierig, weil seit der Interpretation durch Anselm von Canterbury (Cur Deus homo, ca. 1094-98) das juridische Denken im Schema von Beleidigung und Genugtuung Gottes dominiert (Satisfaktionslehre). Zur ihrer Zeit progressiv, leidet die Theorie darunter, dass sie sich Gott als den Empfänger von Ausgleichsleistungen vorstellt, die Menschen erbringen, während er nach dem biblischen Zeugnis in der Sühne der Gebende ist. 

In nicht wenigen katholischen und orthodoxen Traditionen hat die Sühnetheologie dominiert, bis weit in die Frömmigkeit hinein. Sie ist aber im Neuen Testament nur ein, wenngleich ein starkes Motiv. 

Ob Jesus selbst seinen Tod als Sühne gesehen hat, bleibt strittig, weil die Evangelien allenfalls eine implizite, aber keine explizite Sühnetheologie überliefern. Anders in drei wichtigen neutestamentlichen Briefen:

Paulus erläutert im Herzstück des Römerbriefes den Heilstod Jesu als Sühne (Röm 3,21-26). Weitere Stellen sind strittig. Paulus denkt an den heiligen Ort im Tempel, das Zentrum des Allerheiligsten, den Raum über dem innersten Altar, wo einst die Bundeslade die Gegenwart Gottes anzeigte (Ex 25,17-22), später aber eine heilige Leere herrschte, die den unsichtbaren Gott auf intensivste Weise repräsentierte. An diesen Ort sprengte der Hohepriester am Großen Versöhnungstag, Jom Kippur, das Opferblut, um für die unbewussten Sünden Vergebung zu erlangen (Lev 16). Paulus identifiziert diesen Ort der Gegenwart Gottes, die Erlösung stiftet, mit dem gekreuzigten Jesus, der von den Toten auferweckt worden ist. 

Der Hebräerbrief macht aus der Sühnetheologie das Zentrum der Soteriologie: Jesus ist der Hohepriester, der sich selbst opfert (Hebr 2,17; vgl. 9,5). Der Brief setzt beim Dienst des Priesters an, durch ein Sühneopfer Versöhnung zu wirken (Hebr 2,17). Er radikalisiert aber diesen Dienst, weil er von dem einen Menschen geleistet wird, der Gottes Sohn ist; deshalb steht er nicht in der levitischen Ordnung, sondern in der ewigen Melchisedeks (Hebr 5,6.10; 6,20; 7,11.17.21.24 – Ps 110,4). Entscheidend ist, dass er nicht erst für eigene Sünden büßen muss, sondern ganz im Dienst am Heil anderer aufgehen kann, und nicht mit fremdem Blut, sondern mit seinem eigenen sühnt, also niemanden funktionalisiert, sondern sich selbst hingebt. Deshalb ist diese Sühne „ein für allemal“ (Hebr 7,27; 9,12; vgl. 10,2). 

Der Erste Johannesbrief verbindet die Theologie der Agape Gottes mit dem Sühnetod Jesu (1Joh 2,2; 4,10).      

Der Brief in johanneischer Tradition erläutert nicht den Begriff der Sühne, sondern setzt ihn voraus, um mit seiner Hilfe die Intensität des Beistandes Jesu (1Joh 2,1f.) und die Unbedingtheit der Liebe Gottes zu erhellen (1Joh 4,8ff.). 

Die Sühnetheologie ist also eine Reflexionsgröße. Das griechische Wort hat mit Gnade und Vergebung zu tun (Lk 18,13). Im Aktiv ginge es darum, Gott gnädig zu stimmen, im neutestamentlichen Passiv geht es darum, begnadigt zu werden. 

In der alttestamentlichen Sühnetheologie[1]gewinnt die Opfertheologie eine spezifische Ausprägung. 

In der Umwelt Israel dienen Sühneopfer der Besänftigung einer durch menschliche Schuld beleidigten Gottheit.[2]Sie ist auf Opfer angewiesen. Sie kann sich eine Ehrverletzung nicht bieten lassen. Sie muss auf einem Ausgleich bestehen, um wieder göttlichen Glanz ausstrahlen zu können.

Im Alten Testament ist hingegen der Sühnekult von Gott eingerichtet, um den Israeliten einen Ausweg zu verschaffen aus einer ausweglosen Lage, in die sie hingeraten, wenn sie unbewusst sündigen (wobei ein eher objektiver Begriff der Sünde, wie Unheil anrichten, als ein subjektiver, wie Schuld auf sich laden, herrscht). Während das Sündopfer (Lev 4; vgl. Jes 53) den Aspekt hat, die tödliche Macht der Sünde im Tod eines Tieres zu symbolisieren, ist der Akzent des Sühnopfers, dass die Opfernden bewusst eine gerechte Strafe für ihr Vergehen akzeptieren, die zu ihrem Glück symbolisch, in ritueller Form, erlitten werden kann. 

Durch die Sühne werden also die Täter dadurch von ihrer Schuld befreit, dass sie Gottes Strafe akzeptieren und als symbolische Wiedergutmachung ein Tier opfern. 



[1]Vgl. B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000.

[2]Vgl. C. Fevrier, Supplicare deis. La supplication expiatoire à Rome (Recherches sur les rhétoriques religieuses 10), Turnhout 2009. 


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