Meine Interpretation des Liedes ist, dass Philipp Nicolai mit „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ eine zutiefst spirituelle und mystisch geprägte Frömmigkeit zum Ausdruck bringt, die inmitten der Erfahrungen von Leid und Tod eine intensive Nähe zu Gott sucht. Es weist auf Elemente der „neuen Frömmigkeit“ hin, die sich von einer rein dogmatischen Theologie abwendet und stattdessen auf eine persönliche, innige Beziehung zu Christus setzt.
In der vierten Strophe wird deutlich, dass Nicolai eine unmittelbare, freudige Erfahrung der göttlichen Gegenwart beschreibt. Die Freude wird als ein Geschenk Gottes verstanden. Es ist eine Art geistliches Licht, das sein Herz erfüllt. Dies ist ein zentraler Aspekt der neuen Frömmigkeit, die sich durch eine tiefgehende emotionale Verbindung zu Gott auszeichnet. Nicolai schildert diese Begegnung als eine warme und liebevolle Zuwendung Jesu. Die Vorstellung, dass Jesus nicht nur ein Erlöser in einem abstrakten Sinne ist, sondern als lebendige, spürbare Gegenwart erlebt wird, spiegelt die mystische Dimension dieser Frömmigkeit wider. Hier erkennt man dann die Christusmystik. Nicolai betont, dass Christus ihn innerlich stärkt, was an die Idee erinnert, dass wahre Frömmigkeit mehr ist als nur äußerliches Verhalten oder Glaubenssätze. Sie ist eine transformative Kraft, welche den Gläubigen von innen heraus verändert.
Es zeigt sich hier eine Abkehr von der bloßen Schriftlehre hin zu einer lebendigen Beziehung mit dem Wort Gottes, welches in Jesus Christus selbst verkörpert ist. Braut und Bräutigam sind hier zu erkennen. Nicolais Wunsch, in die Arme Christi aufgenommen zu werden, steht symbolisch für eine tiefe Sehnsucht nach Trost und Geborgenheit, die über das bloße intellektuelle Verständnis des Glaubens hinausgeht. Es erinnert an Mechtild von Magdeburg und ihrer Sehnsucht zu Gott, die auf einer radikaleren Ebene aber anzusiedeln ist. Diese Umarmung durch Christus kann als Bild für die mystische Vereinigung verstanden werden, in welcher der Gläubige sich als Teil der göttlichen Liebe erfährt. Dieser Gedanke entspricht der Brautmystik, die für die neue Frömmigkeit typisch ist, in der das Bild des Geliebten und der Geliebten die Nähe zwischen der menschlichen Seele und Christus beschreibt.
Die fünfte Strophe vertieft diesen mystischen Ansatz, indem Nicolai Gott den Vater als liebevollen Beschützer und treuen Begleiter darstellt. Hier zeigt sich die Vorstellung, dass Gott den Menschen seit Anbeginn der Zeit liebt und ihn in Christus bereits vor der Schöpfung auserwählt hat. Diese Erwählung ist für Nicolai keine abstrakte Idee, sondern ein persönliches, existenzielles Erlebnis der Geborgenheit und Annahme durch Gott. Durch die Beschreibung der Beziehung zwischen dem Gläubigen und Christus als eine Art geistliche Ehe wird der Gedanke der Brautmystik weitergeführt. Nicolai sieht sich selbst in einer Liebesbeziehung mit Christus, die ihm Trost und Freude schenkt und ihn in seiner menschlichen Schwäche erhebt. Diese symbolische Verbindung weist darauf hin, dass die Erlösung nicht nur ein zukünftiges Versprechen ist, sondern bereits jetzt erfahrbar und Teil des täglichen Lebens des Gläubigen.
Es spiegelt sich hier der Gedanke der Erwählung wider, welcher für die lutherische Lehre grundlegend ist. Doch Nicolai verbindet diesen Gedanken mit einer stark persönlichen Note, indem er sich als von Gott geliebt und gehütet erfährt. Diese intime Beziehung zu Gott verleiht seinem Glauben eine tiefe emotionale Dimension, die die Barrieren zwischen dem Heiligen und dem Menschlichen aufhebt. Die „himmlische Lebensfreude“, die er in Christus findet, wird zur Hoffnung auf das ewige Leben, die über das Irdische hinausreicht und die Vorfreude auf die zukünftige Gemeinschaft mit Gott darstellt.
Man erkennt hier eine spannende Perspektive, die den Trost und die Freude in der persönlichen Beziehung zu Christus und der ewigen göttlichen Liebe betont. Nicolai führt seine Zuhörer weg von einem distanzierten, rein dogmatischen Verständnis hin zu einer Spiritualität, die von tiefer emotionaler und spiritueller Erfüllung geprägt ist. Die Mystik spielt hier eine wichtige Rolle. Die neue Frömmigkeit wird hier in ihrer ganzen Fülle sichtbar: als eine Hinwendung zu Gott, die auf innige, persönliche Weise Trost spendet und den Gläubigen in das Mysterium göttlicher Liebe eintauchen lässt.