Ich möchte im Folgenden, in meiner Interpretation auf Passagen fokussieren, die Gott ansprechen und/oder bennen und analysieren, wie Gott und auch die Gottesbeziehung charakterisiert werden. Im Anschluss möchte ich dann aufzeigen, in welchem Maße sich eine neue Frömmigkeit in den Strophen auffinden lässt und zum Schluss möchte ich begründen, warum ich dieses Lied als evangelisch empfinde.
Zuerst haben wir die Bezeichnung "Gott", die in einem christlichen Lied sicherlich kein Aufsehen erregt. Direkt im Anschluss wird auf der Beziehungsebene beschrieben, dass Gott das lyrische Ich freundlich ansieht. Hier klingen Bibelstellen wie Gen 4 oder der aaronitische Segen in Num 6 (aber auch Mal 1,9 und weitere) an. Gott wird also ein Charakterzug zugeschrieben, den wir in den Bibel als Motiv mehrfach vorfinden; deutlich soll dabei eine persönliche Erfahrung der Freundlichkeit Gottes referenziert werden. Die Formulierung "mit deinen Eugelein" ist vielleicht das erste, was uns als "komisch" auffällt. Ein Attribut Gottes wird hier mit einem Deminutiv verniedlicht. Negativ ausgedrückt macht es Gottes Augen kleiner und unbedeutender, positiv gewendet aber, könnte es auch bedeutet, dass Gott seine Augen für uns freundlich erscheinen lässt und man sie aufgrund dessen im Demunutiv bezeichnen kann.
In der ersten Strophe wird Gott darüber hinaus lediglich noch als "Herr Jesu mein trawtes Gut" bezeichnet. Der erste Teil dieser Formulierung dürfte so unverdächtig erscheinen wie die Bezeichnung Gott im ersten Vers. Die Bezeichnung als "mein trawtes Gut" hingegen erscheint dann wieder ungewöhnlich. Es betont einerseits eine enge Vertrautheit und Nähe zu Jesus, die man durchaus als neuartig bezeichnen kann. Gott ist nicht mehr der Herrscher. Jegliche Distanz wird aufgehoben. Es wird so gesprochen, als ob man zur Zeit Jesu lebt und ihn persönlich kennengelernt habe. Das beschreibt wahrscheinlich den Aspekt, den wir als andersartig empfinden. Gott erscheint in dieser neuen Frömmigkeit so sehr wie ein enger Freund (bzw. als Geliebter), dass man fast davon ausgehen muss, dass die Menschen, die diese Frömmigkeit gelebt haben, Jesus in Fleisch und Blut kennengelernt haben oder sich in Meditation und Ähnlichem so sehr in eine solche persönliche Nähe hineinversetzt haben, dass sie das zumindest so empfinden. Zur Umarmung in Strophe eins möchte ich an dieser Stelle nichts sagen, da es keine Anrede ist und das dementsprechend gerne jemand anderes genauer unter die Lupe nehmen kann.
Strophe zwei beginnt mit einem Feuerwerk an Anreden:
Zuerst haben wir "HERR Gott Vatter", eine Ansammlung dreier Gottesbezeichnungen, die an sich unauffällig sind. Nachdem in Strophe 1 die Beziehung zu Jesus dem Sohn enger beschrieben wurde, wird nun die Beziehung zum Vater beleuchtet. Die Bezeichnung "HERR" trifft in diesem Lied auf beide Personen Gottes zu; sowohl der Vater als auch der Sohn werden als HERR angesprochen.
Dann folgt die Charakterisierung als "mein starker Heldt". Um diese Anrede besser zu verstehen, hilft es zu beachten, dass in dem Lied Gott und das lyrische Ich als Gegenüber vorgestellt sind. Nicht auf Augenhöhe, aber das "Gegenüber-Sein" zeigt sich darin, dass durch die Pronomen der ersten und zweiten Person, immer wieder Bezüge und Gegenüberstellungen passieren. Wenn also hier von "meinem starken Helden" gesprochen wird, dann wird damit auch ausgesagt, dass das lyrische Ich in seiner*ihrer Schwäche einen solchen Helden gebraucht hat. Hier wird Gottes Stärke als Gegenüber der Schwäche des Menschen (des lyrischen Ichs) betont. Die Stärke ist also nicht neutrales Attribut, wie eine Kraftreserve, sondern ist Stärke für jemanden. Nämlich für das schwache lyrische Ich, das auf diese Stärke angewiesen ist.
Darauf folgt die zweifache Nennung Jesu als "dein Sohn", also Sohn Gottes, was als Gegenpol zu den Stellen, die Nähe und Intimität betonen, Jesusu auch in die direkte Nähe Gottes stellt und damit ihm doch auch die Andersheit gewährt und seine Göttlichkeit betont.
Schlussendlich haben wir dann noch die spannende Gegenüberstellung "Er ist mein Schatz / ich bin sein Braut". Dem Braut-Sein wird an dieser Stelle kein Bräutigam-Sein gegenübergestellt, was als Bild ja durchaus üblich ist (Mt 9,15/ Mt 25, 1-13/ Off 19, 7-9 etc.). Jesus ist "mein Schatz" also auch hier wieder nicht "ein Schatz", sondern wie im gesamten zitierten Abschnitt (außer vielleicht zu Beginn von Strophe V "Herr Gott Vater") immer in Bezug auf den Menschen/ das lyrische Ich. Im Wort Schatz spiegelt sich dann statt den vorher aufgekommenen Attributen Nähe bzw. Intimität zu Jesus und Göttlichkeit Jesu, wie wertvoll Jesus für das lyrische Ich ist. Jesus ist das wertvollste für das lyrische Ich (nicht einer meiner Schätze, sondern "mein Schatz").
In den verschieden Anreden und Charakterisierungen Gottes zeigt sich einerseits die Emotionalität (als trautes Gut,als jemand, der freundlich anblickt und in den Arm nimmt), für die sich der Protestantismus dann teilweise schämte, aber anderseits auch ein Bezug auf die Bibel (freundlich anblicken, Brautmetapher) und eine hohe Wertschätzung Gottes (als HERR und Schatz). Es ist also m.M.n. sehr vielschichtig und man könnte sicherlich noch tiefer eintauchen in die Gott-Mensch-Beziehung, die hier so multidimensional aufgezogen wird.
In der Analyse hat sich auch gezeigt, dass durchaus Fremdartiges/Neues vorkommt, was für eine neue Frömmigkeit der Intimität spricht. Andererseits kann man auch altbekanntes und klassisches wiederfinden (zumindest in den Gottesbezeichnungen).
Aus der Vorlesung ging für mich klar hervor, dass dieses Lied evangelisch ist. Es bettet sich ein in eine evangelische Kirchengeschichte, in der Personen, wie Nicolai und Arndt, und Werke, wie dieses Lied oder Arndts Bücher über das Wahre Christentum, immer streitbar waren, sind und bleiben werden. Es gehört zur Vielfalt der evangelischen Konfession, dass sich verschiedene Frömmigkeitsarten in der evangelischen Kirche vorfinden lassen. Die Kirche muss groß genug sein, um auch einem persönlicheren Bezug zu Jesus Freiraum einzugestehen. Auch das langjährige verbleiben im EG spricht eine deutliche Sprachein Bezug auf das Evangelisch-Sein des Liedes. Und wenn man der Meinung ist, dass in diesem Lied nicht-evangelische Einflüsse deutlich werden, dann finde ich die in der Vorlesung vorgestellte Vorstellung einer "geheimen Ökumene" ebenfalls recht reizvoll.