Als wichtiger Bestandteil der Demokratie gelten freie und geheime Wahlen. Diese gelingen u. a. durch ein materielles Arrangement von genau gefalteten Stimmzetteln, undekorierten Wahlkabinen, die mit Vorhängen versehen sind oder so aufgestellt, dass keiner hineinschauen kann, sowie durch ein soziales Arrangement der Formierung von Schlangen vor den Wahllokalen, die Überprüfung der Identität der Wähler, das getrennte Eintreten in die Kabine und vieles mehr. Der amerikanische Pragmatismus nennt solche Arrangements sowie Situationen, durch die sie sich entfalten, „doing democracy“. Indem Demokratie durch ein solches sozio-materielles Arrangement gestaltet wird, werden nicht nur freie, souveräne Bürger*innen konstituiert, sondern ihre Identität vollzieht eine Transformation von eindeutig feststellbar bei der Auslieferung des Stimmzettels zu nicht verfolgbar bei seiner Abgabe. Das Beispiel zeigt, wie Demokratie als soziale und materielle Situationen gestaltet werden und werden müssen. Das gilt nicht nur bei der Stimmabgabe, sondern auch bei der freien Meinungsbildung, bei der Förderung demokratischer Beteiligung usw. Wie alle sozialen Situationen müssen auch sozio-materielle Arrangements der Demokratie immer wieder gestaltet und situativ an die Orte, Bedingungen und sozialen Gegebenheiten angepasst werden. An dem Wahldebakel der Bundestagswahl in Berlin 2021 wird deutlich, wie viel dabei schief gehen kann und entsprechend beeindruckend ist es, wie oft es tatsächlich gelingt.
Die Digitalisierung sowohl der Stimmabgabe (in Deutschland nicht bei öffentlichen Wahlen) wie auch der Meinungsbildung und der Partizipation ändert die klassische sozio-materielle Art des Gestaltens demokratischer Situationen und fordert die Demokratie heraus, z. B. bei der Digitalisierung der Stimmabgabe, wenn soziale Medien bei der Meinungsbildung eingesetzt werden, oder wenn digitale Bürgerbeteiligungsplattformen angeboten werden. Zudem stellt sich die Frage, wie demokratische Situationen in Gesellschaften gelingen können, die anders organisiert sind als westliche Demokratien, und in denen nicht von individuellen, souveränen Bürger*innen ausgegangen wird.
Im Seminar gehen wir sowohl der Gestaltung klassischer demokratischer Situationen nach wie auch Transformationen demokratischer Situationen, ihrer Gestaltung und Infrastrukturen durch Digitalisierung und werfen schließlich einen Blick auf Versuche, Gesellschaften zu demokratisieren, die sich grundlegend von westlichen Demokratien unterscheiden. Anhand empirischer Beispiele bekommen Studierende einerseits Einblicke in neuere Methoden und Formate demokratischer Situationen. Andererseits werden wir uns theoretisch mit der Konzeption demokratischer Situationen auseinandersetzen und wie ihre Transformation auch neue Begrifflichkeiten ihrer Untersuchung aufwerfen. Dabei werden wir vor allem den amerikanischen Pragmatismus wie auch die Akteur-Netzwerk Theorie sowie weitere Ansätze der Science & Technology Studies heranziehen.
Als Vorbereitung für das Seminar bietet sich an, sich als Wahlhelfer*in bei der Kommunalwahl im September zu melden: https://www.bochum.de/Wahlbuero/Dienstleistungen-und-Infos/Wahlhelfer.
- Kursleiter/in: XKombi-Dienst cupak-hk
- Kursleiter/in: Estrid Sorensen