Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist in der westlichen Welt ein Wandel des Menschenbildes zu beobachten, der sich in verschiedenen kulturellen Symptomen manifestiert: An die Stelle des autonomen Subjekts der Moderne, dem aufgrund seiner Vernunftbegabung eine besondere Würde zukommt, die auch besondere Rechte begründet, scheint der Mensch als verletzliches Wesen getreten zu sein. Alltagssprachliche Begriffe wie "Hass" und "Gewalt", "Mobbing", aber auch Begriffe aus Medizin und Psychologie wie "Trauma", "Sucht", "psychische Störung", "Depression" und andere umfassen heute ein viel breiteres Spektrum von Phänomenen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Mit Begriffen wie „Gewalt“ werden heute Phänomene ungerechter gesellschaftlicher Strukturen und Vorurteile bezeichnet, die früher nicht mit diesem Begriff in Verbindung gebracht wurden. Solche Bedeutungsverschiebungen haben dazu geführt, dass viele konflikthafte menschliche Interaktionen, die früher als unangenehm, aber als normaler Bestandteil des Lebens angesehen wurden, heute als toxisch und traumatisch bezeichnet werden. Der Psychologe Nicholas Haslam hat für solche Ausweitungen des Begriffsumfangs, die sich so schleichend vollziehen, dass sie kaum bemerkt werden, den Begriff "Concept Creep" eingeführt. Man erlebt den Begriffswandel eher als eine Veränderung der Lebenswelt, in der der Bereich des Normalen und Nichtpathologischen zu schrumpfen scheint. Dabei gewinnt die Etikettierung von Menschen als verletzlich (vulnerable) auch eine politisch-moralische Bedeutung und dient dazu, ihre Anliegen und Interessen zu legitimieren und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sie zu lenken. Dieser Prozess ist nicht zufällig mit einer Aufwertung des Opferbegriffs verbunden.
Ziel der Vorlesung ist es, die verschiedenen Aspekte dieses Prozesses herauszuarbeiten und ihre Auswirkungen auf den Alltag und das Selbstverständnis zu untersuchen. Im ersten Teil werden die Auswirkungen der so genannten therapeutischen Kultur auf das Selbstverständnis und die Lebenspraxis untersucht. Begleitend zur Vorlesung werden Texte mit Fragen auf Moodle zur Verfügung gestellt. Die Studierenden, die 4 CP erwerben möchten, werden dafür erstens die vorbereitenden Texte lesen und dazu Fragen beantworten und zweitens ein Protokoll über eine der Vorlesungen anfertigen.