Als zentrale Grundsteinlegung für Minderheitenrechte im modernen Menschenrecht gilt der Artikel 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR): „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eige­ne Reli­gion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“

Dass die Bewahrung kultureller Identität ein Menschenrecht sein kann, ist kaum zu leugnen, wie insbesondere das Beispiel indigener Völker zeigt. Ihre Geschichte ist durch asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse, durch Strukturen der Enteignung, Kolonisierung und Diskriminierung geprägt, die dazu angetan sind, kulturspezifische Ressourcen individueller Selbstverwirklichung im Keim zu ersticken.

Ob und inwiefern kollektive Rechtsforderungen eine sinnvolle Ergänzung individueller Menschenrechte sein können, wird kontrovers diskutiert. Um nur einige Beispiele zu nennen: Sollten Lehrerinnen muslimischen Glaubens das Recht haben, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen? Sollte die Schulpflicht für Sinti- und Roma-Kinder gelockert werden? Sollte ein Immigrant das Recht haben, gemäß den religiösen Traditionen seiner Herkunft im Aufnahmeland eine polygame Ehe zu schließen?

Im Seminar werden wir uns den Kernfragen dieser Debatte widmen. Sind Individualrechte zum Schutz von Minderheiten ausreichend? Genügt es Minderheitenangehörige als Einzelpersonen zu schützen? Oder sollten Minderheitenangehörige per se als Träger von Minderheitenrechten anerkannt werden? Stehen Minderheitenrechte im Widerspruch zum universalen Anspruch von Menschenrechten, jedem Menschen unverletzliche Rechte unabhängig von Stand, Nationalität, Geschlecht, Verdienst oder Leistung zu gewähren, indem sie etwas betonen, was gerade nicht verallgemeinert werden kann – die Besonderheit einer bestimmten Kultur, Tradition oder Lebensform?  In welcher Form gehen kulturelle Normen und Werte in das ein, was wir als unsere individuelle Identität – als unsere Persönlichkeit – betrachten?

Das Seminar wird online über Zoom stattfinden.

Literatur zur Vorbereitung:

Susanne Boshammer: Gruppen, Recht, Gerechtigkeit. Die moralische Begründung der Rechte von Minderheiten, Berlin: De Gruyter, 2003.

Janne Mende: Kultur als Menschenrecht? Ambivalenzen kollektiver Rechtsforderungen, Frankfurt/New York: Campus, 2015.


Semester: WT 2024/25