Es gibt wenige ethische Fragen, über die man sich in der europäischen Tradition so wenig einig ist wie über Lüge und Selbsttäuschung. Lügen im Sinne der vorsätzlichen Falschrede gelten in einer einflußreichen Tradition, die von Augustinus über Kant bis in die Gegenwart reicht, als Inbegriff der menschlichen Schlechtigkeit. Lügen darf man auf keinen Fall, auch wenn man damit ein Menschenleben retten könnte. Selbsttäuschungen hingegen betrachtete Augustinus nur als eine entschuldbare menschliche Schwäche, weil man in solchen Fällen ja nicht weiß, dass man sich selbst belügt. In einer zweiten Tradition von Homer bis zu Nietzsche hingegen werden die ästhetischen und strategischen Vorzüge der Lüge geschätzt. Schon in Homers Ilias und Odyssee wird der verschlagene Odysseus von Menschen und Göttern bewundert. Aber auch Platon lobt die Lüge, wenn sie schön und kompetent gehandhabt wird, im Unterschied zu den Fiktionen der Dichter, bei denen es sich um anstoßend hässliche Lügen handelt. Selbsttäuschung hingegen wird bei Platon und Nietzsche als eine Schwäche betrachtet, auch wenn Nietzsche ihr durchaus eine gewisse Nützlichkeit für das Ertragen widriger Umstände zubilligt. Eine dritte Tradition von Grotius über Schopenhauer bis in die Gegenwart betrachtet nur Lügen als ein ethisches Problem, sofern sie die Rechte anderer verletzen. Im Seminar werden wir uns anhand von klassischen Texten mit den verschiedenen Definitionen und Auslegungen von Lüge und Selbsttäuschung vertraut machen. Wir werden hinterfragen, welche Werte und Begründungen jeweils zugrunde liegen, und uns am Schluss auch mit der sozialen und politischen Dimension von Lüge und Täuschung in der Gegenwart befassen.

Text: Die Lüge. Texte von der Antike bis in die Gegenwart, hg. v. Maria-Sibylla Lotter, Reclam 2017.

Weitere Texte werden auf Moodle bereitgestellt.

 

 

 

 


Semester: WiSe 2024/25