Das zwanzigste Jahrhundert wird nicht nur als das Jahrhundert des Holocaust und vieler anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die Menschheitsgeschichte eingehen, die von Staaten oder staatlichen Organisationen ausgingen. Seite zweite Hälfte ist auch von einer sich verstärkenden moralischen Revolte gegen das sich Abfinden mit staatlich organisierten Verbrechen geprägt. Es gilt heute als inakzeptabel, Zorn und Rachebedürfnisse der Opfer von Großverbrechen durch einen sozialen Mantel des Schweigens zu ersticken. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, sich mit der brutalen Seite der menschlichen Existenz abzufinden, weil man sie nicht mehr als ein die gesamte Menschheitsgeschichte durchziehendes unvermeidliches Übel betrachtet. Der moralische Fortschritt, der in den gewachsenen moralischen Ansprüchen an eine friedliche Koexistenz und eine gerechte Sozialordnung liegt, birgt mit dem Anwachsen der moralischen Affekte, die durch das Bewusstsein von Unrecht ausgelöst werden, aber auch ein destruktives Potential, das die Gestaltung der Zukunft belasten kann. Ein gesteigertes Gerechtigkeitsbewusstsein bedarf einer entsprechenden Fähigkeit und Bereitschaft, Schuld auch wieder abzubauen, verzeihen und sich versöhnen zu können. Hannah Arendt hat die Fähigkeit zu verzeihen als ein unverzichtbares Heilmittel gegen die destruktiven Folgen menschlichen Handelns bezeichnet. Entsprechen wird das Verzeihen oft wie ein Wundermittel betrachtet, mit der Menschen von dem Groll und der Last der Vergangenheit wieder befreit werden können. Aber was versteht man eigentlich unter Verzeihen? Der Begriff ist mehrdeutig, inkohärent, inkonsistent und in vielen Kontexten inadäquat mit Blick auf die Aufgaben, die man ihm aufbürdet. Einerseits wird er ganz weit als Begriff für moralische Reparaturprozesse schlechthin gebraucht. Andererseits verwendet man ihn in einer speziell westlichen Bedeutung, die in sich widersprüchlich ist. Verzeihen bezeichnet nämlich sowohl einen bedingungslosen Akt, der sich jeder moralischen und rechtlichen Reziprozität entzieht (Derrida), als auch einen Verzicht auf Zorn und Rache, der an die Bedingung gebunden ist, dass der Täter Reue zeigt und zu einer inneren Wandlung bereit ist. Ob dieser inkohärente Begriff sich für moralische Reparaturleistungen im globalen Kontext eignet, wäre zu hinterfragen.

Im Seminar werden wir verschiedene Formen von Moral Repair und verschiedene Begriffe des Verzeihens von der Antike bis zur Gegenwart untersuchen, anhand von Texten von Homer, David Konstan, Hannah Arendt, Samuel Butler, Jacques Derrida, Lucy Allais, Margaret Walker, Thomas Macho u. a. 

Die Texte werden auf Moodle bereitgestellt.


Semester: WT 2024/25