Schon im neunzehnten Jahrhundert hat Nietzsche eine merkwürdige
Widersprüchlichkeit in unserem Verhältnis zur Wahrheit herausgearbeitet,
die erst heute voll zum Tragen kommt. Einerseits gibt es einen starken
Drang, gegebene Denkweisen, Vorstellungen und Institutionen mit Blick
auf dahinter liegende reale Verhältnisse und Motive zu entlarven.
Diese Haltung, die mit Blick auf politische Diskurse zu Rousseau und
Marx zurückreicht, hat schon lange über einen durch Foucault
vermittelten Nietzscheanismus die Sozial- und Geisteswissenschaften
erfasst und in den letzten Jahrzehnten auch zur einer Ideologiekritik
der Entdeckungen in den Naturwissenschaften geführt. Sie scheint zu
zeigen, dass wir uns auf besonders intensive Weise der Wahrhaftigkeit
verpflichtet fühlen. Andererseits hat sich neben dieser Forderung nach
Wahrhaftigkeit, die sich als reflexhaftes Misstrauen äußert, seit dem
neunzehnten Jahrhundert auch ein Misstrauen gegenüber der Wahrheit
selbst entwickelt, das mittlerweile fast ebenso verbreitet ist: Eine
Skepsis, ob es überhaupt so etwas wie Wahrheit gibt, d. h. ob es etwas
gibt, was nicht nur relativ oder subjektiv ist. Beide Haltungen gehen
auf Nietzsche zurück, der der Frage nach dem Wert der Wahrhaftigkeit für
das Lebe stellt und in seiner „Geburt der Tragödie“ auch die These
vertritt, dass das Leben nach Täuschung verlangt. Im Seminar werden wir
versuchen, diverse Probleme der Wahrhaftigkeit zu unterscheiden und zu
untersuchen, ob sich aus Nietzsches verstreuten Überlegungen eine
zusammenhängende Sicht des Werts von Wahrhaftigkeit und Täuschung für
das Leben entwickeln lässt.
- Kursleiter/in: Katharina Balk
- Kursleiter/in: Maria-Sibylla Lotter
- Kursleiter/in: Martina Tomczak